Trocken Brot mit Flöhen

Tanztheater International Hannover mit „Chorus“ von Michaël Phelippeau 29./30.08.

Der Abend entwickelt sich gemächlich. Es werden Markierungen am Bühnenboden angebracht, ein Notenständer wird positioniert, dahinter wartet eine zierliche Frau in Schwarz bis eine Reihe von ebenfalls in Schwarz gekleideten Frauen und Männern sich im Halbkreis um sie scharen. Sie singen ein Kirchenlied. Dann treten sie wieder ab, wenig später wieder auf. Sie singen stumm, als ob jemand das Playback vergessen hätte. Beim nächsten Auftritt sind sie wieder hörbar; immer mit der gleiche Bühnenpräsentation. Dann verschiebt sich der Auftritt: aus der Reihe der  Singenden ergeben sich zwei Spiralen, die sich zu Quadern formieren und beim Singen in langsamen Foxtrott-Schritten in sich selbst drehen.

Eine Stunde lang verändert sich für Augen und Ohr das immer gleiche Lied. Langweilig? Keineswegs. Man spürt immer mehr Spannung in sich aufsteigen, je häufiger es wieder „auf Anfang“ geht. Gesungen wird die Kantate „Nicht so traurig, nicht so sehr“ von Johann Sebastian Bach (BWV 384). Die Sängerinnen und Sänger sind wohltrainiert, haben gute, klare Stimmen, aber dennoch hört, wer nicht gleich weiß, um welchen Text es sich handelt, nur Bruchstücke des Textes. Bei einem ‚Stakkato’-Auftritt höre ich eine auseinander gerissene „See-le“, ein „viel“ und danach ein „wenig“ und als bei der folgenden Version drei einzelnen Sängern durch Körperbewegungen ein ungewolltes Tremolo auf- und abgezwungen wird, dringt ein „oh lass mich los“ an mein Ohr.

Hier weiß dann bereits jeder anfangs leicht verunsicherte Zuschauer, dass eine alte Form in Form und Ausdruck kräftig durchdekliniert wird. Ein wunderbares Hör-Bild ist der Auftritt als „laufender Gesang“ – so habe ich es genannt, als immer nur die durch die Bühnenmitte gehenden Sänger den Text singen. Wenn die einfachen Formen wie Stehen, Gehen abgehakt sind, dann kommen das Sitzen und Liegen und damit die „lebenden Bilder“. Als ob Bachs Kantate allmählich auf die Bühne tröpfelt, gehen die Sänger und Sängerinnen zu Boden und im Kopf der Betrachter baut sich das „Floß der Medusa“ auf (Gericault, 1819). Da verbindet sich der Text des Gottvertrauens mit dem Skandal einer Truppenentsendung nach Senegal 1816 und dem Kannibalismus auf dem Schiffbrüchigenfloß. Über eine Jagdankündigung, eine Tingstätte, an der immer in angepasster Weise die Kantate intoniert wird, erreicht das „hast du Gott, so hat’s nicht Not“ in höllenrotem Licht die Verdammnisbilder Luca Signorellis am Dom von Orvieto.

Damit ist aber noch lange nicht Schluss. In einem wohlgesetzten Rhythmus wird die Spannung durch die beiden Choreographen Michaël Phelippeau und Marcela Santander Corvalán hochgehalten. Nichts ist abgeschmackt, alles seriös und anregend.

Hier wird die Auflösung der Form durch andere Formen betrieben, und es bleibt doch immer Form – lesbar, erkennbar, authentisch. So könnte ich mir Piet Mondrian als Choreograph vorstellen. Oder eine Eric Satie Aufführung in Schwarz. Oder eine Mahlzeit von trockenem Brot und hüpfenden Flöhen.

Ein Abend für alle, die sich still freuen und ihr Herz im Beat schlagen lassen. Mit einem intensiven, langen Applaus bedankte sich das Publikum.

Foto: Alain Monot

Foto: Alain Monot

Foto: Alain Monot

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