Archiv der Kategorie: Tagebuch

Sie haben wieder Ausgang…

Arme fuchtelnde, wilde, ungeschliffene Männer und Frauen, die sich gegen Abstand und Mund-Nasen-Bedeckung wehren.

Wir treffen sie in allen Medien und manchmal auch live in Straßen und auf Plätzen. Sie lieben das Rudeln. Sie wollen nicht allein sein. Leben im Jetzt ist angesagt.

„Wilde Männer“ und ebenso „wilde Frauen“ gab es schon vor Jahrhunderten. Sie lebten auf farbenfrohen Wandbehängen und sorgten für ein behagliches Wohnklima. Ihr Leben aber begann noch viel früher – als man die Verständigung verlor, als man den Turm zum Himmel in Babylon baute und als man den Nachbarn nicht mehr verstand, weil er bla-bla sprach. Es war die Geburtstunde der „Barbaren“.

Wer sind denn nun die Barbaren in unseren Tagen? Wir oder nur die anderen? Die anderen oder nur wir?

Eine Erscheinung, die wir in alten Büchern und aktuellen Medien finden können. Fällt uns da der mittelalterliche Henker ein, der religiös motivierte Kämpfer oder Halloween-Teilnehmer?

Vielleicht geben die künstlichen und künstlerischen Gestalten von Gunnar Klenke Hinweise, vielleicht sogar Antworten. Gunnar Klenke hat die „Wilden“ seit Jahren auf farbigen Leinwänden eingefangen. Sie leben gern an Ausstellungs- und Wohnraumwänden.

Ateliersituation

Gunnar Klenke (1956 in Rodewald, Kreis Nienburg geboren) schloss 1983 das Studium der Freien Kunst  in Hannover mit dem Diplom ab.

Zwischen 1979 und 1985 nahm er an acht wichtigen Projekten von „Kunst im öffentlichen Raum“ in Kiel, Frankfurt, Bremen und Hannover teil. Seit 1981 Ausstellungen in Deutschland, Dänemark, Norwegen, in Lausanne, Brande (DK), Oslo, Viborg (DK), Budapest, Dortmund, Hamburg und Hannover. 2001 eine vielbeachtete Ausstellung in Tel Aviv.

Gunnar Klenke beschäftigte sich nach dem Studium mit magischen Zeichen und Ritualen – aus allen Religionen, aus alten und neuen und meistens gewinnt er seine Erkenntnisse aus Büchern. Er schlüpft nicht in die Rolle der Gläubigen, der Beter, Sänger oder Weihrauchschwenker.

Verhältnis von Macht, Magie und Realität

„Ich bin da sehr synkretistisch“ meint Klenke – was ja meint: ich halte die Lehre nicht so rein, bei mir dürfen sich die Bedeutungen und Meinung durchaus überschneiden.

Als Künstler interessiert er sich weniger für religiöse Systeme, als vielmehr für das menschliche Verhalten, das mit dem Magischen ein Zeichensystem für das Unbekannte setzt.

Ateliersituation aus den 2010ner Jahren

Seine Gemälde und Zeichnungen haben keine Titel. Hätten sie Titel, wäre die Nähe zu einer Bedeutungsfixierung zu groß. Der Künstler will dem Betrachter lieber die Möglichkeit eigener Lösung und Er-Lösung lassen.

Seit 2015 hat Gunnar Klenke in Gesprächen immer wieder die „Wilden Männer“ erwähnt, behaarte Gestalten, die auf Tapisserien des späten Mittelalters zwischen Girlanden ein für uns  meist unverständliches und entrücktes Leben führen.

Liebevoll?
Liebestoll…?

Wild sehen die Männer und Frauen oftmals aus: sie waren immer ein Propagandainstrument oder ein frühes Selfie der Gesellschaft, denn das „Wilde“ an ihnen war sowohl das „Primitive“ wie auch das „Paradiesische“; sie galten als unkultiviert und zugleich als ungebunden und frei.

Die „Kämpfer“ des IS können wir in dieser Tradition sehen; der Blick auf sie schwankt auch zwischen Verachtung und Verehrung. Ihre Körperverhüllung und ihre stete Gottesverherrlichung durch formelhafte Worteinkleidung haben Teil an dem Mythos der Wilden Männer und der (weniger zahlreichen) Wilden Frauen.

In der europäischen und weltweiten Kulturgeschichte finden sich immer wieder Figuren, die den Bildern der Wilden Männer ähneln, beginnend mit der Figur  des Enkidu im Gilgamesch Epos (seit etwa 2.000 BC) über Esau im Alten Testament bis hin zu Shakespeares Caliban (Der Sturm) und den alemannischen Fastnachtsfiguren und den Historien der frühen Bergleute (Wildemann-Orte und -Häuser im Harz).

Die Tradition reißt nicht ab, sie bildet immer neue Ausprägungen der Gestalt. Behaarte Wilde können noch Abbilder unseres Ursprungs sein, vergleichbar den Schattenspielen in Platons „Höhlengleichnis“.

Ähnlichkeiten oder neue Realitäten?

Der Künstler Gunnar Klenke verbeißt sich nicht im Politischen, aber er vergisst die Nabelschnur unsers Lebens nicht, auch wenn sie aus dem Dunkel der Urzeit kommt.

Wenn Künstler sich mit den Zuständen in ihrer Zeit beschäftigen, dann schauen sie gerne zurück, gerne auch sehr weit zurück. So selbstverständlich uns die Bezeichnung „Renaissance“ ist, so gerne vergessen wir, dass es ein Rückblick in eine weit zurück liegende Zeit war. Der Blick zu den Griechen schweifte dabei etwa zweitausend Jahre in die Vergangenheit. Auch J.J. Winkelmanns Formulierung (1755/1764), von der edlen Einfalt und stillen Größe, die uns heute als Definition der Klassik geläufig ist,  basiert auf der Vorbildfunktion griechischer Kunst (auch wenn der Laokoon, bei dessen Beschreibung Winckelmann die Formulierung benutzte, vermutlich eine römische Kopie eines verschollenen griechischen Originals ist).

Vergangenheit und Zukunft sind im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext vor allem von geistigen und emotionalen Aspekten bestimmt, in der Gegenwart hingegen bestimmen vor allem ökonomische Aspekte.

Gunnar Klenke setzt sich mit einem Menschenbild auseinander, das die oberflächliche Zerrissenheit unserer Umbruchszeit (analoge zu digitaler Welt) und zugleich die starke Verwurzelung in tradierten Lebensgewohnheiten (sammeln, jagen, domestizieren) nebeneinander stellt. Ein ‚Sharkträger‘ verweist auf das Jagen zur Lebenserhaltung, der ‚maskenhafte Pilotenkopf‘ auf die künstliche Atmosphäre, die wir wegen der hochtechnologischen Fortbewegung um uns brauchen, der ‚Schirmhalter‘ auf den Schutz vor stark beeinträchtigender Natureinflüsse und der ‚vegetable-bone‘ Mann auf unsere nicht nur körperliche ‚Offenheit‘, sondern zugleich auf die Ersetzbarkeit von Knochen, Geweben und Organen.

Die einzelnen Zeichnungen und Gemälde sezieren unsere Welt, die wir ja nie als etwas Ganzes erleben, sondern immer nur als Ausschnitt. Die starke Gegensätzlichkeit der einzelnen Arbeiten verdeutlichen, dass hier keine Gesamtheit und keine Einheit beschworen wird.

Corona Kindertage

Corona-Spaziergänge mache ich, wie wir alle oder zumindest sehr viele, seit der Bewegungseinschränkung vor vier Wochen täglich. Ich erkunde die Ecken der Stadt, die gemeinhin nicht auf dem täglichen Bewegungsplan stehen. Ein historischer Allmende-Wald, der sich um unsere Innenstadt legt und ein Lauf- und Luftpolster für viele ist, hat seinen südlichsten Zipfel in angenehmer Entfernung.

Radfahrer, Fußgänger, Jogger, Mütter und Väter mit kleineren Kindern begegnen mir dabei. Und ich nahm auch sauber gelehnte oder gestapelte Äste wahr. Sie waren der Kontrast zu den wie achtlos liegen gelassenen grob geschnittenen Baumstämmen. Immer wieder verließ ich die Wege und stapfte  auf die Astgebilde zu. Sie erinnerten mich an die Hütten, die ich während meiner Kinderjahre  am Rande des Gartens und mit Freunden im nahen Wald baute. – Wer hatte sie hier angelegt? Die Waldarbeiter, deren Motorsägen ich immer wieder hörte, wohl eher nicht.

Ich sah und sehe die Gebilde, von denen ich gut ein Dutzend im Blickfeld von etwa 400 m entdeckte, als Hütten von spielenden Kindern an, eventuell auch als Schlafstellen von homeless, die sich ja auch gern solche Verstecke suchen. Dafür allerdings waren alle Hütten, die ich sah, zu unberührt.

Tatsächlich sah ich auch einen kindlichen Inspizienten bei einer der Hütten.

 

 

 

 

 

Jetzt, noch nach Tagen, erscheinen mir die Hütten wie ein von der Phantasie gebauter Spielplatz. Ich werde ihn nochmals besuchen.

Auf den Wegen durch die Stadt, aber auch vor meinen Fenstern entstanden weitere Kindheitserinnerungen: es wurde wieder mit Kreide auf Asphalt oder Steinen gemalt.

Als ich die ersten Pflastermalereien sah, waren die eigenen Versuche vor dem Elternhaus gleich wieder präsent; allerdings auch die Auflage der Mutter, am Abend mit Wassereimer und Schrubber die Malereien wieder zu tilgen. Leicht verwischt habe ich die aktuellen Malereien bei späteren Spaziergängen immer noch gesehen.

Mich erinnern manche der Pflastermalereien (wie dieses Beispiel) an Kirchenmosaiken aus dem 11. oder 12. Jahrhundert – Otranto fällt mir da als sehr gutes und interessantes Beispiel ein.

 

 

 

 

 

 

Die Straße als Raum für Betätigung wird aber nicht nur von Kindern und Jugendlichen entdeckt. Auch einer meiner Nachbarn stellte fest, dass Anregungen direkt vor der Haustür liegen können. Er nahm ein frisches T-Shirt, eine Pappe, Farbe und einen Pinsel und färbte einen eisernen Deckel vor dem Haus blau ein. Dann legte er das T-Shirt über diesen „Druckstock“, rieb kräftig und hatte ein neues Tattoo-Muster für die Brust.

 

 

 

 

Lebendige Vergangenheit – Cartoon Zeitgenossen

 

 

 

Ich lernte Olaf Rademacher als einen schattenhaften Partner und Begleiter von Heide Weidele kennen, deren immer wieder neu erfundene Kunstgewerke mich ansprachen – und mehr als das: mich faszinierten.

Olaf war immer mal da, aber meist abwesend als Person, aber anwesend als jemand, der in allen Gesprächen erwähnt wurde. Das liegt heute mehr als 30 Jahre zurück. Olaf war und ist Zeichner, Papierfledderer, der Zeitungen und Bücher gerne auf Stadtspaziergängen fand, eine Art Lebens-Clochard mit verschmitztem Lächeln und gerne explodierender Intellektualität. Und aus allen dieses Aspekten speist sich seine Liebenswürdigkeit.

Es gibt bei Olaf keine Titel, aber ich habe (zur privaten Identifikation) Schlagwörter hinzugefügt. Für diesen Cartoons steht: Entenwelt

1988 gab der Fischer-Verlag (Frankfurt) ein Taschenbuch mit Cartoons von Olaf Rademacher heraus, das neben 84 Abbildungen nur die nötigsten Daten zu seiner Person angibt: 1935 in Breslau geboren, nach dem Krieg ein paar Jahre in der CSSR gelebt, dann in West-Berlin nach einer Handwerkslehre die Meisterschule für Kunsthandwerk besucht. Erste Zeichnungen schon um 1950 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Als ich Heide Weidele kennen lerne, gab es auch Olaf immer wieder in ihrer Nähe, aber ein Zusammenhang fiel mir nicht auf. Als ich zu ihrer Trauung im Römer 1999 eingeladen wurde verwandelte sich die bisherige sanfte Fremdheit in eine warme Vertrautheit.

Ein paar Jahre zuvor, 1995, präsentierte ich Cartoons von Olaf Rademacher in Hannover, im zentralen Durchgang des Institutsgebäude des bib, einer Fachhochschule für Computerberufe.

gegen Kopfschmerzen

Von dieser Ausstellung fanden sich in A4 großen Briefumschlägen noch Belege, Fotokopien von Zeichnungen, die Olaf zur Auswahl geschickt hatte. Ich war es gewohnt, Originale zu präsentieren und nahm die Kopien lange Zeit auch als Originale. Nur bei sehr penibler Untersuchung der Striche, lassen sich Originale und Kopien auseinanderhalten. Olaf hatte wohl immer nur Kopien an seine Redaktionen geschickt; die Originale waren für den Verkauf an Sammler zurück gehalten, die dann den drei- bis vierfachen Preis des Abdrucks als Illustration erbrachten. Daten oder Titel trugen die Cartoons nicht. Das korrespondiert mit einer verblüffenden Abstraktheit der Figuren und Situationen auf den Cartoons.

Die Figuren sind einzeln und auch durchaus lebendig gezeichnet, aber sie sind gänzlich unindividuell. Sie sind Klone, ohne komplett identisch zu sein. Und alle sind sie, so scheint mir, irgendwie immer Olaf: deutlich und trotzdem schematisch bis vage, handelnd und (scheinbar) denkend, aktiv, aber deutlich nicht selbstbestimmt. Diese letzte Eigenschaft geht komplett an der Person Olaf vorbei. Er ist sehr selbstbestimmt in seinem Leben und Denken.

Stützen der Gesellschaft

enlightenment = Aufklärung

unter den Teppich kehren

Schnittmusterbogen

 

vor dem rettenden Ufer

Die Szenarien der Cartoons kenne ich nur für die Zeit der beiden Jahrzehnte vor und nach der Jahrtausendwende. Die Zeichnungen wurden nie datiert. Ich verstehe sie als eine fortlaufende Aktualität seines Lebens und des politischen Beobachtens.

Tagesaktualitäten treten in den Cartoons von Olaf Rademacher nicht auf. Deshalb sind Daten oder „Zeigefinger“ auf spezifische Ereignisse nicht notwendig. Es geht eigentlich immer um die grundsätzliche Befindlichkeit in unserer = der aktuellen Zeit.

Es gibt eine Reihe von Konstanten in den Cartoons von Olaf Rademacher: keine geschlossenen Räume (es gibt sehr seltene Ausnahmen), keine Physiognomien bei den Figuren, eine Zeitlang trugen die Köpfe alle runde Brillen, vorher oder nachher (beides unsicher) nicht, alle Gegenstände gehören einer traditionellen, alten, weitgehend vergangenen Welt an, auch Fernsehgeräte und Computer gehören dazu, ebenso Pflüge, Leitern, Stühle, Gasmasken, Besen. Es gibt ein sparsames Tierarsenal: gerne Enten, gelegentlich Fische oder auch mal ein Lama-ähnliches Tier.

Überraschend für mich – und dennoch sehr persönlich und „heimisch“ – empfand ich die zahlreichen Wasserszenerien, die mich immer an die biblische Sintflut erinnern. Allerdings auch an den Untergang der „Medusa“, an Kunstgeschichte und tatsächliche Schiffskatastrophen, die nicht nur von Géricault, sondern auch von Max Beckmann gemalt wurden.

 

 

Schatten des Lebens – Nachruf für Krysztof Penderecki

Am Sonntag Morgen, den 29. März 2020 starb in Krakau Krysztof Penderecki. Er wurde 86 Jahre alt.

Ich traf den polnischen Komponisten zwei Mal: 1988 wurde er von den Musikern des NDR Symphonieorchesters Hamburg zum ersten Gastdirigent gewählt. Aus dem Anlass machte ich mit ihm ein Interview im Funkhaus Hannover. Es gibt kein Manuskript vom ungeschnittenen Gespräch, auch keines vom gesendeten Gespräch.

Das zweite Treffen ergab sich in Würzburg 2010; ich war zu einer Mal-Performance in einer der Kirchen eingeladen und am Vorabend dirigierte Penderecki seine 7. Sinfonie im Dom.

 

Penderecki – und das ergibt sich für mich erst jetzt, beim Montieren meiner Erinnerungen zu einem Nachruf – gehört für mich in eine Reihe polnischer Künster(Namen), die mir das Aufnehmen europäischer Kultur im Laufe meines Lebens deutlich machten: Stanislawski Jerzy Lem, Tadeusz Kantor, Stanislav Witkiewicz, Andrej Waida, Roman Opalka, Roman Polanski, Jan Lenica, Magdalena Abakanowicz. Chopin, Tamara de Lempica oder Jan Mateijko reihten sich unbemerkt in die Reihe ein.

 

Penderecki ist für mich ein „Bild“ der Ruhe, der deutlich körperlichen Ruhe – wie er mit mir im Studio sass, wie er durch den Kirchenraum in Würzburg ging und wie er stundenlang am Tisch im Frühstückraum des Würzburger Hotels sass und redete. Beim Dirigieren bricht er dann aus dieser Ruhe aus und entfesselt Stürme von hinweisender Beweglichkeit. Schreck und Beruhigung wohnen in seinem Geist und seinem Körper.

 

Ich habe seit einigen Jahren Nachrufe auf / für Personen geschrieben, die mich berührt hatten. Alle Nachrufe waren persönlich, auch wenn einzelne dann auch als Text erschienen sind. In meiner folgenden Tagebuchnotiz ist mir meine „Bild“ von Penderecki immer noch sehr gegenwärtig. Es ist nun zu einem „Schatten des Lebens“ geworden.

 

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Penderecki in Würzburg 13.11.2010

 

Wir waren im 4-Sterne-Hotel „Rebstock“ untergebracht, dort logierte auch Krzysztof Penderecki, der in Würzburg seine 7. Sinfonie „Seven Gates of Jerusalem“ dirigierte…

Nach dem Essen ging es, nur wenige hundert Meter und um zwei Straßenbiegungen, zum Dom, in dem Penderecki die Sinfonie dirigierte, die er zur 3000 Jahr-Feier Jerusalems komponiert hatte. Der Dom war übervoll und alle Vorabbemühungen um reservierte Plätze waren vergebens gewesen. Im Querschiff, ganz am Ende fanden sich noch Plätze auf den Kirchenbänken. Ich suchte Sitz- oder Stehmöglichkeiten mit Blick auf Musiker und Sänger im Seitenschiff. Wir kamen dabei ins Gespräch mit dem Klavierbaumeister der Akademie, der uns erzählte, dass Penderecki die zwei Tage seines Aufenthaltes um ein Zimmer in der Akademie und ein Klavier gebeten hatten, um weiter an einer Komposition zu arbeiten. Sein Auftritt war eines Bischofs würdig: die Solosänger und –sängerinnen gingen vor ihm und in geziemendem Abstand kam er und trug die Partitur und seinen Bauch gravitätisch vor sich her. „So kommt sonst nur der Bischof hier herein“, sagte der Klavierbaumeister.

Penderecki dirigierte ohne Stab und führte Orchester und Chor nur mit schlichten Handbewegungen; er war in allem ruhig und gemessen. Mein Eindruck war: er komponierte, wie Jacques malt. Diesen Eindruck hatte ich schon bei der Vorbereitung vom Text zu Jacques, da war mir beim Recherchieren aufgefallen, dass beide ähnlich sprunghaft und diskontinuierlich mit religiösen und philosophischen Sujets und politisch-gesellschaftlichen umgehen. Bei Penderecki hörte ich viele Phrasierungen, die mir sehr vertraut waren, es war eine orchestrierte Neue Musik in gemäßigtem Aufguss: effektvoll, stilsicher, aber doch ohne allzu viel Überraschungen. Im vierten Teil (?) gab es eine kleine Passage, in der einer der Soprane (ich hörte es als Alt-Stimme) eine sanft gewellte chromatische Tonfolge sang, bevor ein mittleres Schlagzeug-Gewitter darüber zog. Es wäre schön gewesen, mehr von den melodiösen Folgen im Gedächtnis zu behalten. Am Ende gab es lang anhaltenden Applaus und Penderecki wirkte gelöst und zufrieden, so ging er dann auch wieder in sein Zimmer rechts neben dem Altarraum. Ich begleitete ihn eine Strecke und erzählte ihm, dass ich vor 30 Jahren, ein Jahr vor der „Roi Ubu“ Premiere ein langes Interview mit ihm im NDR gemacht hatte. Er hörte zu, aber sagte nahezu kein Wort.

Am Sonntag Morgen kam ich zum Frühstückraum und sah als erstes Penderecki, ging sofort wieder nach oben und holte das Programmheft, das er am Abend vorher wegen der vielen Menschen nicht signieren wollte. Ich setzte mich in Sichtweise und sprang auf, als er den Tisch verließ. Ich bat ihn um ein Autogramm und erzählte ihm nochmals die Geschichte von gestern; er erinnerte sich daran. Auf eine nächste Gelegenheit zum Gespräch hoffend verriet er mir, dass er in einem Jahr wieder in Würzburg sein würde und die Lukas Passion dirigieren würde – seine Lukas Passion.

Penderecki saß fast den gesamten Morgen im Frühstücksraum und sprach mit Musikern.., kurz vor 11.00 Uhr…sprach er mit einem älter wirkenden Russen, sie sprachen deutsch, denn es saß noch eine jüngere Frau mit am Tisch, die vorher auch schon mit ihm am Tisch gesessen hatte und ein Mädchen von etwa sieben Jahren – vielleicht Frau und Tochter von Penderecki. Die beiden Männer sprachen langsam, leise und mit großen Pausen deutsch, russisch sprachen sie nur, wenn die Frau sich entfernt hatte, aber im gleichen Sprechtempo.

Ich notierte mir „bedächtige Sätze…über Hotelzimmer, wo man wie, (und) in wessen historischem Zimmer man geschlafen hat; wer wen zu seinem Festival eingeladen hat – über Musikausbildung, dass Bläserklassen gefördert werden, Streicher aber nicht (und) dass Streicher weniger Gemeinsinn entwickeln. P. erwähnt wieder, mit leichtem Ton von Befriedigung, dass er die „Lukas Passion“ im nächsten Jahr macht“.

Eine Kunst-Stadt im Tokyoter Bereich

Das Faret Tachikawa Art Projekt

Bei einer Recherche zum israelischen Künstler Menashe Kadisman (1932 – 2015) stieß ich auf eine ausladende Skulptur in der Nähe meines derzeitigen Aufenthaltes; zur drei Stationen mit dem Vorortzug, dann Umstieg in den Tama Monorail und in weniger als 45 Minuten konnte ich dort sein.

Die Arbeit von Kadisman, den ich mehrfach in Deutschland und Israel getroffen hatte, ist Teil des Faret Tachikawa Art Projekts, das um die Mitte der 1990er Jahre geplant und durchgeführt wurde.

Ein professioneller Auftritt im Internet begleitet zeitgemäß gekleidete junge Besucher durch eine moderne Stadt , deren Hochhaus-Aspekte an New York, Chicago oder Los Angeles denken lassen (aufrufbar auch über YouTube). Als Erläuterung des Projects wird durch Schriftzug deutlich gemacht: „…it brings people and place together.“

Der Titel „Faret Tachikawa Art Project“ ließ mich an einen industriellen oder werbetreibenden Sponsor denken. Aber als ein solcher Hintergrund ließ sich nicht finden. Ich fand nur den Namen des verantwortlichen Kurators (art directors), der möglicherweise auch der Initiator war, denn mit ihm verbunden ist die „Art Front Gallery“ mit 50 Mitarbeitern. Fram (eigentlich Furamu) Kitagawa, geboren 1946 startete nach einem Kunststudium in Tokyo 1978 mit einer Antoni Gaudi Ausstellung, die er in 11 japanischen Städten plazieren konnte. Damit war wohl schon die Idee geboren, eine „company active in all apsects of art“ zu gründen – so überschreibt die Art Front Gallery heute ihre Aktivitäten und Ziele. Die Liste der Ausstellungen und Kunstaktionen ist sehr lang.

Warum das Faret Tachikawa Art Project gegründet wurde, wird nirgendwo explizit erläutert, doch mit einigen Puzzle-Stücken erschließt es sich durchaus:

der Ort Tachikawa wurde 1889 im süd-östlichen Gebiet von Tokyo nach der Einführung moderner Kommunalverordnungen gegründet. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Amerikaner Japan bereits gezwungen Häfen für den internationalen Handel zu öffnen, was zum Ende des 259 Jahren währenden Tokugawa Shogunats und zur Wiederherstellung der Herrschaft des Tennos führte. Japan modernisierte sich im Stil amerikanischer und europäischer Länder. Der neue Tenno (Mutsuhito) gab als Motto seiner Herrschaft „meiji“ (= aufgeklärte Herrschaft) aus. Es folgten umtriebige diplomatische Auftritte; der erste war 1873 auf der Weltausstellung in Wien. Auf diese Neubesinnung kaiserlicher, demokratisch ummantelter Herrschaft zielt wohl der Hinweis auf die „moderne Gemeindeordnung“ (Wikipedia) ab.

Tachikawa bot ein großes flaches Areal, das von 1922 an von der kaiserlichen Armee als Air field genutzt wurde (Wikipedia, engl.) Von 1929 – 1933 befand sich dort der erste internationale Flughafen von Tokyo. Nach 1933 wurde das Flugfeld nur noch militärisch genutzt und erweitert um eine angrenzende Flugzeugproduktion. Das führte im Zweiten Weltkrieg zu intensiven Angriffen der US Air Force. Nach dem Ende des Krieges übernahmen die Amerikaner den Flugplatz, der dann während des Koreakirges und danach auch für den Vietnam Krieg ein wichtiger Stützpunkt wurde.

1977 ging der Flugplatz wieder an Japan zurück und wurde von der japanischen „Selbstverteidigungs-Luftwaffe“ genutzt. Dabei blieb ein großer Teil des ursprünglichen Gebietes ungenutzt. Ein Teil wurde weiterhin als Evakuierungsflächen bei Erdbeben freigehalten und ein kleiner Teil mit einer neuen „Stadt“ bebaut (japanvisitor.com/tokyo/tachikawa).

Diese neue „Stadt“ wurde am 13. Oktober 1994 geboren und besteht aus 11 Gebäuden, die allesamt kommerzielle genutzt werden: Hotel, Kaufhaus, Kino, Bücherei/Bibliothek oder Verwaltungsgebäude. Vier Jahre später wurde der heute noch intensiv genutzte Monorail (Einschienenbahn) eröffnet.

 

Der neue Bereich vom „alten“ Tachikawa nennt sich Faret Tachikawa. „Faret“ bedeutet fare T(achikawa). Fare ist ein italienisches Verb = tun.

 

Das alte Tachikawa versteckt sich unter alten Bäumen am Rande des Neuen.
Man muss aber in die Nebenstrassen laufen, die still und verschlafen wirken

Dieser neue Tachikawa-Stadtteil, der ja nur durch Arbeits- und Konsumaspekte belebt wurde, konnte zu einer Blaupause für ein neues (nur japanisches?) Stadtleben werden.

Ein kleiner Eindruck von Faret Tachikawa, wenn man aus dem Monorail auf Einfamilienhaus-Dachhöhe aussteigt:

Blick 1 aus der Hochebene des Monorail Bahnhofs

 

Die Füße des Monorail

 

 

 

 

 

Blick 2 auf Faret Tachikawa

 

 

 

Blick 3 auf Faret Tachikawa, mit einem Kunstwerk

 

 

 

 

 

 

Faret is now a model for regional art-based revitalisation“, schreibt Initiator (?) und Kurator Fram Kitawara. Etwa in einem Jahrzehnt wurden 109 Werke von 92 Kündtlers aus 36 Ländern für Faret Tachikawa entwickelt und installiert. – Nach Informationen über Kosten und die Auswahlstrategie habe ich bisher vergeblich gesucht.

Aber ein Spaziergang um die vier Blöcke erweckt Assoziationen und Fragen. Und das ist eine wichtige Kraft von Kunst.

Hier folgen ein paar Beispiele und kurze Kommentare oder Erinnerungen von mir:

Hier sieht man deutlich, dass Kunst gemeint ist. Und man sieht sogar eine doppelte Zeit der Kunstgeschichte: Tendenzen die frühen 1930er und der späten 1970er Jahre.

 

 

 

Hier kommt man ins Grübeln: Kunst oder doch Architektur? Da nirgendwo an den Werken eine Plakette Aufschluß und Auskunft gibt, muß man dem eigenen Wissen oder Gefühl trauen.

Auskunft findet man aber im Internet unter Faret Tachikawa Art Project. Man muß sich durch den dort einsehbaren Lageplan durchklicken.

Ein Teil der großen Wand-Skulptur von Menashe Kadisman (1932 – 2015) mit einem sehr poetischen und existentiellen Hinweise: Tiere lächeln nicht, Menschen schon.

Kadishman hat immer in Gesprächen darauf hingewiesen, dass er erst Schäfer gewesen sei. Ob es stimmt, habe ich nie kontrolliert, denn es war für ihn eine Beschreibung seiner Nähe zu Natur und Natürlichkeit. Beides bedeutete für ihn Menschlichkeit.

Schwer zu entschlüsseln ist dieses Kunstwerk von Marina Abramovic (1936 in Belgrad), der großen Performerin. Die Rosenquarz Steine sind Stand- und Haltepunkte für Hände, Füße und Kopf. Marina Abramovic hat zusammen mit Ulay über viele Jahre die Stille und die Zeit zu Materialien der Kunst gemacht. Als Solo-Performerin schwebte sie danach oftmals im Verharren, einer geistigen Kreuzigung.

Niki de Saint Phalle ist auf sehr andere Art als Marina Abramovic eine Frau, die sich zwischen Märchen und Welt, zwischen Verletzung und Heilung bewegt. Wie Kadishman ist Niki de Saint Phalle den Tieren, ihrer Geschichte, ihren Mythen und ihren Kräften sehr nahe.

Bei diesem Kunstwerk vergeht die Ratlosigkeit der Besucher erst, wenn man beginnt, mit den Gegenständen des Alltags (es sind reale Verbots Poller) zu spielen – sie als wandelbare Elemente zu nutzen.

 

 

 

Dieses Haus-ähnliche Gebilde steht in einer gepflasterten parkähnlichen Raucherecke und erinnerte mich an skulpturale Arbeiten von Per Kirkeby (1938 – 2018).

 

 

Let’s go Pop – die Stadt und ihre Kunst sind hier getreulich vereint.

 

Manchmal spielen die Sonne und die wenigen Bäume in den Straßen  mit der Kunst und geben ihr eine eigene „natürlich“ Aura. Man muß allerdings zur rechten Zeit am Ort sein.

 

 

 

Manchmal fragt man sich beim Flanieren entlang der Straßen von Faret Taxchikawa, wo die Kunst anfängt und die Architektur aufhört oder wo die Architektur zum Rahmen der Kunst wird. Wenn man aber nicht Flaniert, sieht man diese Frage nicht.

Aber: hinter aller Kunst steht immer noch die Wirklichkeit, wenn die Wirklichkeit nicht schon in der Kunst ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

Japanische Höflichkeit oder Problemlösung auf japanisch

Sie ist sprichwörtlich, die japanische Höflichkeit. Wer einmal in Japan war, kennt das leichte Nicken mit dem Kopf, die leichte Seitwärtsbewegung eines Mannes oder einer Frau, die einem entgegen kommen und einen selbst schon mal gesehen haben oder aber den Ausländer auf diese Weise willkommen heißen.

Zur Höflichkeit gehört auch, dass man auf alles mögliche hingewiesen wird: im Zug, wen man bei Notfällen oder beim Beobachten von Ungewöhnlichem kontaktieren soll, an der Supermarktkasse auf den Betrag seines Einkaufs, den man als Nicht-Japaner so rasch als korrekt nicht realisieren kann, bevor man die „confirm“-Tasdte drücken soll und an Baustellen mit sichtbarem Aufwand an Menschen und Material, wohin man seine Schritte unbedingt wenden und ob und wie lange man stehen bleiben muss.

Als Ausländer ist man immer in Gefahr, eines der vielen ungeschriebenen und unbekannten Verhaltensmuster verletzt zu haben.

Gerade beim beliebten JR Rail Pass, der das Reisen in Japan preiswert und vielfach einfach macht, werden dabei womöglich auch irreführende Missverständnisse eingebaut. Bei den vorangegangenen drei Reisen habe ich mit den Rail Pässen gute Erfahrungen gemacht. Bei dem jetztigen Aufenthalt führte mich meine Suche auf neue Anbieterseiten, deren europäische Standorte ich der Anbieterseite erst nach der Buchung entnehmen konnte.

Ich buchte u.a. einen JR East-South Hokkaido Rail Pass, denn ich wollte mich gezielt durchs Land bewegen. Auf der Innenseite befindet sich eine Landkarte mit Städten und Verbindungen. Welche Verbindlichkeit die Ortsnamen und Streckenlinien haben, wird nicht deutlich ausgeführt. Dafür wird aber darauf hingewiesen, dass bei etwaigen Übersetzungsfehlern ins Englische, Chinesische und Koreanische die japanische Version bindend ist. [„If the English, Chinese (traditionell or simplified) or Korean translation of these conditions of carriage is queried, the Japanese version shall be considered correct.“]

Es ist wie an der Supermarkt Selbstbedienungskasse: wenn ich den Kassenzettel noch nicht ordentlich geprüft habe und dennoch bei „confirm“ gedrückt habe, gibt es keine Möglichkeit des Einspruchs mehr. Fehler machen Japaner nicht! Wenn sie aber trotzdem entstehen, versucht man unter allen Umständen recht zu haben, danach aber nicht unbedingt zu handeln.

Ich buchte von Akita nach Niigata ein Ticket, das ich erhielt. Niigata war aber als Namen nicht auf der kleinen Landkarte verzeichnet. Es irritierte mich nicht, weil ich nicht davon ausging, dass alle möglichen Haltepunkte des Gebietes aufgeführt sind.

Beim Ein- und Austreten der Bereiche der verschiedenen Linien muss man den Rail Pass vorzeigen. In Niigata gab es dabei keine Reaktion – der Bahnhof kam mir sehr unübersichtlich vor, ich mußte mehrfach nach dem Ausgang fragen. Plötzlich stand ich außerhalb des Bereiches der verschiedenen Zug-Gesellschaften. Ich ging gleich zum JR Rail Pass Schalter und orderte für meine Weiterfahrt zwei Tage später Karten nach Toyoshima, einer kleinen Station in den japanischen Alpen. Bis dahin mußte ich dreimal umsteigen, in Takasaki, Nagano und als letztes Matsumoto.

In mein Tagebuch schrieb ich, meine Tochter, die im Großraum Tokyo lebt, hat sehr gute Vorarbeit geleistet, „die sehr hilfreiche junge Frau in Niigata konnte auch keine bessere Verbindung finden. Sie hatte sich immer wieder entschuldigt, wenn sie wegging, um etwas nachzuschauen. Es störte mich nicht, ich hatte Zeit, in meinem Hotel konnte ich erst um 15.00 Uhr einchecken. Es war schön zu sehen, wie die junge Frau, die meine Fahrkarten zusammenstellte nach jedem Gang, den sie vom Schalter weg machen mußte, lächelnder, fröhlicher und erleichterter zurück kam. Ich habe sie als sehr herzlich empfunden. Sie kam mir sogar noch nachgelaufen, weil sie mich ein klein wenig falsch zum Hotel geschickt hatte. Ich hätte es wenige Schritte weiter gemerkt, aber so war es nochmals ein herzliches gegenseitiges Anlachen.“

In Takasaki wurde ich angehalten mit dem Hinweis, dass mein JR Pass hier nicht gültig sei. Ich verwies auf meine gültigen Tickets und die Umstände des Erwerbs. Man ließ mich warten. In letzter Minute schickte man mich mit einem handgeschriebenen Begleitzettel zum Bahnsteig.

In Nagano erhielt ich erneut den Hinweis, dass mein JR Pass hier nicht gültg sei. Ich wiederholte meine bisherigen Argumente. Man mußte, wie schon in Takasaki, mit dem „Chef“ sprechen. Ich hatte zwar 45 Minuten Zeit zum Umsteigen, aber es wurde zeitlich immer enger. Kurz vor Abfahrt des Zuges wurde ich nochmals vertröstet. Also eine Stunde Wartezeit auf den nächsten Anschluß. Die Zeit verstrich, meine Gesprächspartnerin kam von einer anderen Seuite (in meinem Rücken – zufällig oder bildhaft bedeutsam?) und bedeutete mir, ihr zu folgen. Sie legte einen typisch japanischen Eilschritt vor, führte mich um Sperren herum und brachte mich an den Zug, der jeden Moment abfahren mußte. Als die Türen sich schlossen, verschwand sie wieder. In Matsumoto wurde ich wieder am Ausgang auf die Ungültigkeit des Passes angesprochen. Ich schaute den Mann wenig überrascht an und sagte ihm, er wäre der Dritte heute. Er lachte, nahm mir das ticket aus der Hand und ließ mich gehen.

Ich war nun einen halben Tag ohne die Berechtigung mit meinem JR Rail Pass unterwegs und wurde hier, vor der letzten kurzen Wegstrecke (Yen 230) aus- oder abgeschoben.

Das ist eine noble Form, sich aus der Bedrouille zu ziehen, denn an allen Stationen wurde mir gesagt „it’s your fault“. Ich musste bei jedem Umsteigen vor allem konzentriert und freundlich kooperativ, aber vor allem bestimmt sein.

War es für die JR Mitarbeiter(innen) unmöglich zu sehen, dass sich zwei Fehler ineinaner verhakt hatten? Ich hatte auf die Richtigkeit vertrauten können, dass es korrekt war, nachdem ich die Tickets für die drei Teilstrecken ab Niigata, das ich ja nicht hätte erreichen dürfen, erhielt und man hatte mir zwar zur eigenen Reinwachsung zweimal gesagt, es wäre meine Schuld, aber diese Schuld wurde mir nicht nachgewiesen. Man brachte mich statt dessen so weit irregulär in die Züge, bis ich außerhalb des Netzes der schnellen Züge war. Danach wird anders kontrolliert und die Bahnsteige sind auch durch andere Eingänge erreichbar. Man entzog mich der regulären Kontrolle an den Eingängen und bestrafte mich zumindest einmal mit einer (bewußten?) Zeitverzögerung.

Als ich das System endlich verstand, war ich schon aus dem Geltungsbereich heraus. Ich kaufte mir für den letzten Abschnitt eine neue Fahrkarte für den Preis von 230 Yen (knapp 3€).

Meditative Wimmelbilder

Katalog-Cover und Motiv des Plakats

Auf einem der Bahnhöfe im Tokyoter Umland lockte mich ein farbiges Plakat mit afrikanischer Figuration und ansonsten nur japanischen Schriftzeichen zu näherer Betrachtung. Hinweise, um was es ging, konnte ich den mir unbekannten Schriftzeichen nicht entnehmen. Eine Japanerin, die in der Nähe stand war hilfsbereit und ich erfuhr, dass es sich um eine Ausstellung im Museum der Tama Art University handelte, die noch zu sehen ist.

Ich empfand Vorfreude auf einen Besuch in Tama Center, das ich schon vor zwei Jahren besucht hatte und auf schöne farbige Skulpturen von Niki de Saint Phalle getroffen war, der französisch-amerikanischen Künstlerin. Meine Begegnungen mit Niki de Saint Phalle sind wir teure Erinnerungen, und das war eine zusätzliche Motivation.

Das Museum der Kunst Universität steht direkt neben der Benesse Verwaltung, der Eigentümerin der Berlitz School und der Figuren von Niki.

Skulptur von Niki de Saint Phalle

 

 

 

Auf zwei Stockwerken, in vier mittelgroßen Räumen sind Teile der Afrika Sammlung von Kenji Shiraishi präsentiert, einem „führenden Afrika Kenner“ (sagt der Katalog).

 

 

Die Ausstellung erfreut und überzeugt, aber sie hat auch die Tendenz, die Besucher zu überfordern. Im ersten Raum, gleich rechts hinter dem Eingangsbereich, ist ein großes sieben-teiliges Wandbild, das von traditionellen Holzskulpturen und beeindruckend ornamentierten Filz- und Bast-Matten zu einem ruhigen und schöner Eintritt in eine fremde Welt arrangiert worden. Es ist keine Welt, die unverständlich, aber von uns unerlebt ist. Wir kennen sie bestenfalls durch Abbildungen.

Ein Teil aus dem Wandbild von Abdul Amonde Mkura von 1992

Der Raum wird durch das siebenteilige Wandbild von Abdul Amonde Mkura (geb.1954) dominiert, das er im Jahr seines ersten Japanbesuches, 1992, malte. Die aneinander gereihten Bildtafeln sind mittig im erzählerischen Sinne geteilt: unten sieht man eine Abfolge ländlichen Lebens, oben eine Paraphrase aus der Welt der Tiere und Fabelwesen. Es vermengen sich auf beiden Bildebenen zeitgenössisches und archaisches Leben. Im oberen naturhaften Bereich meine ich Berg- und Baumformen zu erkennen, die auch in der japanischen Bildtradition erscheinen.

Alle Artefakte im Raum ziehen den Betrachter in Bann, aber es bedarf des Verweilens. Die Bilder und Skulpturen, selbst die Gewebe wollen gelesen werden wie ein Buch. Ich gestehe, dass ich nur einige der „Bücher“ angelesen habe. Gerade in diesem ersten Raum gibt es zu viele interessante Ablenkungen: neben den traditionellen Skulpturen ein paar Tierbilder, denen man gerne eine Nähe zu Kinderzeichnungen nachsagen möchte. Erhellend – vielleicht wie ein Lexikon – ist eine dunkle Skulptur von Kashimiri Matayo: eine offene Säulenform, in der sich linienförmig ein Pferdekopf und eine Art Fisch-Mensch in einer Lianen-Welt ineinenander verschlingen.

Bevor man zwei Räume mit kleinen und großen farbigen Arbeiten von George Lilanga betritt, gibt es einen Raum mit Fotos aus den Jahren 1970-73 von Frelimo-Unabhängkeitskämpfern in Mozambique. Das Wort „Frelimo“ konnte ich lesen und es führte mich zurück in meine Studienjahre und die Anteilnahme der überall in Afrika erwachten Freiheitsbewegungen. Fotos, wie diese unpathetischen Szenen aus dem Dschungelleben, waren damals wenig in den Medien zu finden. Sind diese Szenen auch der Hintergrund für die zeitgleichen Malereien dieser Ausstellung? Der Ausstellungspräsentation konnte ich das nicht entnehmen und auch dem nur mit japanischen Informationen versehenen Katalog nicht. Dem siebenteiligen Wandbild von Mkura würde ich einen solchen Zusammenhang unterstellen, denn er zeigt die afrikanische (Bilderbuch)Welt brüchig, erschreckend und doch auch stabil traditionell.

Mkuras Malerei ist durchweg erzählerisch, er kommt aus der damals jungen Tradition der Tingatinga-Malerei, die in den 1960er Jahren von einem arbeitslosen Mann namensTingatinga in Tanzania entwickelt worden. Er bemalte mit Fahrradlack quadratische Pressplatten mit Tieren, Figuren und Landschaften. Zu Mkura und Tingatinga gibt es im Internet deutsprachige und japanische Seiten.

George Lalinga, 1993, von dem auch die Abbildung auf Plakat und Katalog stammt

Der größte Teil der Ausstellung ist George Lilanga (1934 – 2005) aus Daressalam, Tanzania, gewidmet. Auch seine Kunst fußt auf der Tingatinga-Bewegung. Er hat sich später zu vereinfachten und abstrahierten Figurationen entwickelt. Die ornamentalen Formen füllen jeweils die ganze Malfläche. Die Figuren mutieren ständig; sie sind alle eins und doch ständig anders. Für die Augen sind seine Bilder Labyrinthe ohne Ausgang und Eingang. Sie sind Meditationsbilder, die vor den Augen gerne verschwimmen. Ich empfinde sie als fröhlich und zugleich mystisch. Sie erinnern mich stark an japanische Mangafiguren, die sich auch gerne und intensive verwandeln.

George Lalinga, 1979

In der westlichen Kunst gibt es während der 1970er Jahre vergleichbare Kunstwerke, vor allem bei den Phantasten, die ebenfalls gern auf historische Weltdarstellungen zurückgriffen. Mich erinnert gerade dieses Blatt an Arbeiten von Walter Wegmüller (Basel), der zu meinen Künstlerfreunden der 1960er Jahre gehörte. Auch Niki de Sait Phalle ist mit ihrem zeichnerischen Werk nicht sehr weit entfernt, schöpft aber vor allem aus biographischen Quellen.

Wieviel Lebensweisheit, wieviel Politik in den Werken dieser Ausstellung steckt, kann ich derzeit nur erahnen, herausgefunden habe ich es noch nicht.

Zu Umbo auf verwachsenen Pfaden

Umbo 1973. Foto Hans-Jürgen Tast

 

Erinnerungen sind trügerisch. Sie transportieren neben Fakten auch Wünsche und angeeignete Kenntnisse, zuweilen sogar nur Einbildungen.

Über Erinnerungen lässt sich also meistens trefflich streiten, selten aber die Wahrheit finden.

Hans-Jürgen Tast hat seine spannende, überraschende und immer kenntnisreiche Kulleraugen Serie „Visuelle Kommunikation“ im jüngsten Heft (Nr. 53) dem Fotografen „Umbo“ gewidmet. Das liegt nicht nur nahe wegen der überbordenden Welle von „!00 Jahre Bauhaus“ Publikationen, sondern auch wegen seiner eigenen Erinnerung an seinen Foto-Lehrer Umbo. Aber auf 54 Seiten finden sich nur sehr vereinzelt tatsächliche Umbo-Erinnerungs-Fakten. Eine davon steht schon auf dem Titelblatt: „Ich habe es gesehen. Ich habe es erlebt. Ich habe es festgehalten“. Ein Ausspruch, den Umbo vermutlich leitmotivisch immer mal wieder getan hat.

Umbo ergänzt die zwei wichtigen Fakten fürs Erinnern – Sehen und Erleben – durch den sehr wichtigen Zusatz „festgehalten“. Was Umbo mit der Kamera festgehalten hat, ist für uns immer noch sichtbar, aber erleben können wir es nur gefiltert durch vergleichbares eigenes Erleben und durch Anschauung, also unsere Interpretation.

Die im handlichen A5-Format gehaltenen Hefte vermitteln meist keinen durchlaufenden Text. Die Seiten sind durch Abschnitte und Trennzeichen gegliedert und zeigen, dass man ausschnittweise lesen kann und soll; dass man Fakten- und Gedankenbrocken bekommt, die man selbst zu einem größeren Zusammenhang fügt. Die Hefte sind Materialsammlungen und Vorschläge (oder nur Hinweise) für einen roten Verständigungsfaden.

Von Umbo sind nicht viele Abzüge und nur sehr weniger Negative aus der Nach-Bauhaus Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges erhalten geblieben. Einen Œuvre-Überblick konnte man nie herstellen und darunter litt natürlich sein Renommee. Das Erhaltene aus Umbos Leben ist bislang nicht häufig und intensiv genug gezeigt worden, damit seine „Stellung“ gesichert und selbstverständlich gewesen wäre.

Hans-Jürgen Tast hat für seinen Umbo-Beitrag viel Material zusammengetragen. Hätte er daraus einen durchlaufenden Text gemacht, hätte man an den Bausteinen feststellen können, wo Umbos tragende Säulen waren. Eine Analyse von Umbos Bildsprache wäre ein wunderbares Werkzeug zum Verständnis seiner Qualität gewesen. Ich habe eine solche Analyse vermisst.

Hans-Jürgen Tast hat viele erläuternde Belegstellen zur Zeit und Umbos Umwegen gesammelt: von der Wandervogel-Bewegung etwa, einschließlich dreier Notgeldscheine der Stadt  Kahla von 1921, die einen der Protagonisten dieser Bewegung, Friedrich Lamberti-Muck, verspotten. Toll, dass Tast diese Beispiele aufgestöbert hat (in seinem Archiv?), aber er hat sie nicht in seinen „Zettelkasten“ verständlich einsortiert.

Der „Kokos-Schnitzer“ Umbo wird erwähnt (S.23), aber man erfährt nichts von diesem ernsten (?) oder nur heiteren Handwerk. Auch die durch Brief-Zitat belegte Übernachtung von Holger Fidus (wer ist das?) beim Wandervogel Lamberti-Muck ist nicht selbstreferentiell. Was soll dieser Hinweis?

Ich hätte lieber Aussagen und Gedanken zu ästhetischen Aspekten von Umbos Fotografie, respektive seinem Lehren oder Erklären gelesen. Interessiert hätte mich auch die Frage, ob für die Studierenden in Hildesheim damals Umbos Ästhetik politisch war; oder was seine Nachkriegsfotos den Nachkriegsstudierenden sagten. Haben sie die überhaupt gekannt, zu Gesicht bekommen?

Die Kathedrale von Umbos Lebenswerk ist zu einem Steinbruch geworden, so wie viele Kirchen ohne Gemeindeleben es in den vergangenen Jahrhunderten auch wurden. Wie aus den Kirchen-Steinbrüchen werden auch aus Umbos Fotowelt neue Bildwelten entstehen.

Die deutschen Vietnamesen – wie man das Fremde in sich zur Heimat macht

Es gibt Bücher, die liebt man, weil man selbst ein wenig von ähnlichen Geschichten erlebt hat.

Mit „Die deutschen Vietnamesen“ von Nguyen Phuong-Dan und Stefan Canham geht es mir so. Ich habe in den frühen 1990er Jahren auf der südkoreanischen Insel Cheju zwei junge „deutsche Koreaner“ getroffen. Sie waren in Hamburg geboren und aufgewachsen, mussten aber mit ihren Eltern als Halbwüchsige wieder zurück nach Korea. Um ihr Heimweh ein wenig zu lindern, gründeten sie einen „deutschen Club“, in dem sie im kleinen Kreis mit anderen nur deutsch sprachen und ihre deutschen Kinder- und Jugendjahre wieder aufleben ließen. Ihr lebhaftes Erzählen war mit viel Wehmut durchsetzt.

Diese Wehmut habe ich in „Die deutschen Vietnamesen“ wiedergefunden. Auch hier war der Ausgangspunkt die Stadt Hamburg. Die zwei Fotografen, die zu den „deutschen Vietnamesen“ reisten, leben in Hamburg. Nguyen Phuong-Dan ist in Hannover geboren (1982), Stefan Canham in Epsom, England (1968).

Nguyen Phuong-Dan arbeitete 2008 in der Programmabteilung des Goethe-Instituts in Hanoi und realisierte wenig später ein Fotobuch, das sich mit der Herkunft seiner Eltern beschäftigte, die in den 1970er Jahren unabhängig voneinander nach Deutschland kamen.

2008/2009 war Stefan Canham als artist-in-residence in Hongkong und veröffentlichte anschließend ein Buch über die Behausungen von chinesischen Wanderarbeiter auf den Dächern der Mietkasernen der Stadt.

Wie die beiden Autoren sich in Hamburg trafen, beschreibt das Buch nicht. Im Prinzip ist das auch nicht wichtig. Aber für mich wäre es ein „Puzzlestein“, denn als die boatpeople ab 1979 über den Flughafen Hannover nach Deutschland einflogen, arbeitete ich für den NDR und hatte einen Kollegen, der sie mit Mikrophon früh morgens in Empfang nahm. Beliebt waren diese Aufträge nicht in der Redaktion. Viel später lernte ich einige von ihnen in ihrem Tempel in Ahlem kennen. An ihren Anblick haben wir uns in den verflossenen Jahrzehnten so sehr gewöhnt, dass wir ihre „Fremdheit“ nicht mehr bemerken.

Das Buch über ein paar Schicksale nach Deutschland-Ost und Deutschland-West eingereiste Vietnamesen, die wieder zurück mussten oder wollten, ist ein Geschichtenbuch über Migration. Eines, das anrührt und Persönliches ausbreitet, was wir nicht fragen würden.

Aber das Persönliche ist das Tor zum Verstehen, weil man miteinander ins Gespräch kommt. Vor wenigen Tagen sass ich beim „Italiener“ (genauer: bei Massimo) und genoss mein Eis. Der neue Kellner addierte fürs Bezahlen die Zahlen in Spanisch. Sein Deutsch war ordentlich, aber deutlich von „aussen“. Ich bemerkte: „Jetzt weiß ich, woher Sie kommen.“ – „Wenn Sie es treffen, bekommen Sie meine Börse“, sagte er. Ich habe nicht geraten, er kam aus Guatemala. Als ich von der Familie meines Schwagers erzählte, die in Guatemala lebt und deren Enkelkinder eines nach dem anderen in Deutschland studieren und leben, war er sehr interessiert. Beim nächsten Eis werden wir weiter sprechen. – Das sind Einstiege in den Austausch und ins Verstehen.

Das vermittelt das Buch. Das ist die Qualität des Buches. Das Erleben der „Fremde“ wurde für diese „deutschen Vietnamesen“ zu einer geistigen oder emotionalen Erweckung, zu einem Lebensantrieb, zum push, die Zukunft heraus zu fordern.

Die Erzählungen sind sehr unterschiedlich vom Duktus der Sprache und vom Rhythmus des Erzählens. Die Fotos der beiden Autoren handeln nicht nur äußerlich vom „Fremden“, sondern auch ganz konkret für die beiden selbst, denn Dan hatte vorher kaum Interieurs fotografiert, Stefan Canham keine Portraits.

Ein „inneres Zögern“ meine ich den Fotos immer wieder anzusehen; sie sind nie gefühlig, auch wenn ihre Motive das nahe legen. Gerne stehen, wenn die Wohnsituationen von Außen gezeigt werden, zwei Fotos hintereinander, die Fassaden, Straßenecken oder Sitzbereiche vom gleichen Standpunkt aufnehmen, aber um etwa 45° gedreht. Es ist, als ob man den Kopf leicht dreht.

Die Fotos sind allesamt sachlich gehalten. Es gibt keine gefühlige „Weichzeichnerei“.

Ein Missgeschick ist mir aufgefallen, das dieser Distanz zur Gefühligkeit verbunden zu sein scheint:

Auf der Rückseite des Buches steht ein sehr treffendes Zitat zur Gefühlssituation junger Vietnamesen in Deutschland:

„Wir sind einfach Eis essen gegangen, zu der Zeit konnte man nichts anderes machen, die Discos haben uns rausgeschmissen, Fussball konnten die Mädchen damals nicht spielen, also sind wir Eis essen gegangen oder Pizza. Das war’s schon, wir waren glücklich, wenn wir uns getroffen haben.“

Daneben steht ein schwarz-weisses Foto einer jungen Vietnamesin in einem recht typisch deutschen Treppenhaus. Das Foto passt sehr gut zum Text. – Tatsächlich sind das aber die Sätze von Sang, einem jungen Mann, der als Siebenjähriger mit einem Touristenvisum mit seinen Eltern nach Deutschland kam. Das Foto von ihm hat eine ganz andere Sprache, als das kurze, treffende Zitat. Er war der einzige Vietnamese in einer kleinen Stadt. Er lernte mit Handzeichen und Benjamin Blümchen Kassetten Deutsch.

Bild und Text – das illustriert dieses Beispiel – erzählen nicht immer die gleiche Geschichten; manche sind sichtbar, manche nur hörbar.

Das Buch ist 2011 erschienen, aber für mich ist es schlicht alterslos und durch seinen sowohl aktuellen wie geschichtlichen Inhalt zeitlos = dauerhaft.

 

Bezug über www. peperoni-books.de (ISBN 978-3-941825-23-9)

 

Rückblicke – farbig, aufschlussreich, kommunikativ

Fast ein halbes Jahr blicke ich auf dieses Buch-Cover, wenn ich meine Augen über den Rand des Laptops hebe. Ein einfaches Bild, das mich jedes Mal in mein Innere schauen läßt. Die Künstlerin FRANEK, bei Wikipedia unter Sabine Franek-Koch zu finden, ist drei Jahre älter als ich. Sie feierte ihren 80. Geburtstag. Als ich sie Anfang März in Berlin besuchte, wirkte sie nicht nur frisch, sondern auch bemerkenswert jung. Ihre raum-reiche Berliner Altbauwohnung ist bestückt mit eigenen Bildern, Bücherwänden, Einnerungsstücken und Geschirren aus Großmutters Zeit. Die Gegenwart verwandelte sich bei ihr in eine zeitlose Vergangenheit. Wir sprachen auch beständig alternierend von Gegenwart und Vergangenheit, von Erinnerungen und neuen Projekten.

Bär schaut zurück“ ist der erste Band ihrer Kunst Biographie, umfasst die Jahre 1960-90. Ein weiterer Teil wird sicher noch folgen. Für ein paar Tage läuft noch eine Ausstellung zum Buch in Potsdam.

FRANEKs Buch zieht mich mit in Ihre Rückschau, weil es mir so deutlich vor Augen führt, wieviel Vergangenes lebendig bleibt (wenn auch jahrelang verborgen). Und wie weit Gegenwärtiges davon entfernt ist und sich selbstverständlich zeitlos anfühlt.

Das Buch ist für mich ein Zeugnis unseres Beisammen-gewesen-Seins, fokusiert im letzten Berliner Treffen und der Buchübergabe. Aus unseren immer vereinzelten Treffen und Gesprächen wurde ein Stück gemeinsamen Lebens. Ein erstes Blatt aus ihrer Produktion erhielt ich mit einer kleinen Sammlung „phantastischer“ Kunst (so hieß das damals), die ich von einem Architekten-Freund in Zürich erwarb.Wenige weitere Arbeiten kamen hinzu, aber FRANEKs Kunst war für mich immer eine „innerliche“, gleich: in mir lebende Kunst. Sie machte früh Reisen in andere, vermeindlich präzivilisatorische Kulturen, die ich nur durch Bücher oder Abbildungen in mich aufnahm. Sie lebte Eintauchen und Auseinandersetzen mit den Trägern dieser Kulturen. Sie fand durch ihren künstlerischen Ausdruck eine Balance aus Nähe, Verständnis, Bewunderung und Abstand. Alles was sie nach Hause zurück brachte, war durchtränkt von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen. Es waren Findungen und keine Erfindungen. Ich konnte sie beschreibend bemerkbar machen, aber nicht erklären.

FRANEKs Kunst ist selbst- und eigen-ständig. Mit ein paar Texten habe ich versucht, ihre Traumbilder mit indigenen Siglen den Betrachtern in den 1980er und 90er Jahren nahe zu bringen. Interessant ist aber vor allem, mit ihnen zu leben. Sie sammeln so sehr Zeit und Empfindungen in sich wie Gebete und Gedichte; sie bleiben immer präsent, immer jung, selbst wenn um sie herum das Erscheinungsbild der Welt sich ändert.

Ein Erinnerungsfoto aus der Zeitspanne des Katalogs: FRANEK, lks – selbst – Renate Anger, Berliner Künstlerin, gest. 2009.

In FRANEKs Bilderwelt herrschen Landschaft, naturhafte Erscheinngen und Tiere. Ich komme darauf nochmals in einem eigenen Text zurück.

Bär schaut zurück“ (ISBN 978-3-95476-274-3) ist erhältlich über international-books@edel.com