Archiv der Kategorie: 2015_Reise USA

Chicago – klare Luft, gefrorene Zeit

1.03.

Im Winter ist ein Stadtbummel häufig nur auf Fotos bei Sonnenschein schön. Chicago empfing mich mit Sonnenschein, Kälte und einer wunderschönen Skyline, aber der Stadtbummel war eher kurz. Ich vermisse die Chance, entspannt mehrfach durch die Straßen gegangen zu sein, aber die Bilder vor meinen Augen werden in meiner Erinnerung bleiben. Ich nehme Chicago als eine sehr angenehme Stadt mit auf meine weitere Reise. Fasziniert hat mich die perfekt designte Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart. Gut, die Vergangenheit (sprich: die marode wirkenden Eisengerüste der Metro, die sichtbar überalterten Züge und Wagons) war nicht unbedingt shining, aber sie war noch sichtbar. Ich liebe es, wenn das Gewesene noch anwesend ist, mich mithin einbettet in die Zeit, mir Entwicklung, Fluß und Überfluß, Mut und Willen zur Gestaltung zeigt. Das ist in Chicago down town der Fall.

Wabash

Wabash im östlichen down town

 

Skyline vom ARt Institut aus gesehen - zwischen down town, Park und Lake Michigan

Skyline vom ARt Institut aus gesehen – zwischen down town, Park und Lake Michigan

Meine Unterkunft bei einer jungen songwriterin liegt auf der Hälfte des Weges von down town zum Flughafen O’Hare. Der Weg in die Stadt ist ein Film, der im Lebensstil des 19. Jahrhunderts beginnt und im frühen 21. Jahrhundert endet.
Auf engstem Raum und in gedrängter Zeit erlebte ich amerikanisches Leben – es ist schon richtig, auch heute noch, was mir vor fast vier Jahrzehnten ein Freund sagte: Amerika ist so wie im Film. Sehr viele Filmbilder sind so wie der Alltag. Wenn ich das formuliere, besteht immer die Möglichkeit, es als Schmäh (miß-)zu verstehen. Den Umkehrschluß halte ich für zutreffend: amerikanisches Kino ist immer schon die visuelle Erzählung amerikanischen Lebens gewesen.

Metro-Station Randolph/Wabash

Metro-Station Randolph/Wabash

Peter Handke schreibt am Ende seines Buches „Der kurze Weg zum langen Abschied“ (1972) von einem Gespräch mit John Ford, bei dem er die Fragen der meist abwesenden weiblichen Protagonistin Judith (die die Rolle seiner Ehefrau Liebgard von der tatsächlichen Reise einnahm) übertrug:
“Wir Amerikaner sagen ‚wir‘, auch wenn wir von unseren Privatsachen reden“, antwortete John Ford. „Das kommt vielleicht daher, daß für uns alles, was wir tun, Teil einer gemeinsamen öffentlichen Aktion ist. Ich-Geschichten gibt es nur dort, wo einer für alle anderen steht.Wir gehen mit unserem Ich nicht so feierlich um wie ihr…Wir sehnen uns nicht danach, einsam zu sein; man wird verächtlich, wenn man allein bleibt, schnüffelt nur noch an sich selber herum…
“Erzählen Sie von sich selber“, sagte Judith.
“Immer wenn ich über mich selber reden wollte, kam es mir vor, als ob es dazu noch zu früh ist“, antwortete John Ford. „Meine eigenen Erlebnisse lagen nie weit genug zurück. So rede ich lieber davon, was andere vor mir erlebt haben. Ich habe ja auch lieber Filme gemacht, die vor meiner Zeit spielen. Nach dem,was ich selber erlebt habe, sehne ich mich kaum zurück, aber das Heimweh ist groß nach Dingen, die ich nie tun konnte, und nach Orten, wo ich nie gewesen bin…“
Handkes Buch ist voll von den Konfrontationen zwischen innerem Autoren-Ich und dem amerikanischen Alltagsleben. Es war mir eine gute und intensive Vorbereitung. Immer noch sehr authentisch und lesbar.

bei der "Intelligentsia"

bei der „Intelligentsia“

Vor dieser kleinen Abweichung waren meine Gedanken in einer In-Cafeteria mitten in down town, die sich „intelligentsia“ nennt (mit rotem Stern. Selbstverständlich! Anlehnungen an den idealisierten sowjetischen Kommunismus inbegriffen), ein karg und nicht eindeutig designtes Lokal ist und voll mit dunkel gekleideten jungen Leuten war. Das Besondere: hier wurde jede Tasse Kaffee zelebriert.

so wird hier Kaffee aufgebrüht - alles Handarbeit

so wird hier Kaffee aufgebrüht – alles Handarbeit

Man bestellte und zahlte und wartete dann auf den Aufruf, seinen Kaffee abzuholen. Ich verstand das Prozedere erst, nachdem ich (die Portion war nicht nur sehr schmackhaft, sondern auch durch ein Nachschenke-Weinkännchen reichlich) die Menschen um mich herum beobachtete. Es wurde absolut jeder Kaffee „handgemacht“, angefangen beim Mahlen der Bohnen.

Mein Gedeck

Mein Gedeck

Das Zelebrieren hat seinen Preis, übertrieben ist er dennoch nicht. Auch bei der „intelligentsia“ ist die Kommunikation durchweg digital. Der Minicomputer in der Hand bestimmt das Gespräch, weniger das hörbare Reden. Hinter mir saßen zwei Kaffeetrinker, die tatsächlich die ganze Zeit über miteinander sprachen. Es war eine angenehme Atmosphäre: man war allein und doch unter anderen (s. Handke). Die sympathischen jungen Leute, die den Betrieb am Laufen hielten, bezogen mich als Einzelnen immer mal wieder in ein Kurzgespräch ein.

Einmal durch Jesus Raphael Sotos Kunst (1972) tanzen

Einmal durch Jesus Raphael Sotos Kunst (1972) tanzen

Der Rest des Nachmittages spielte sich für mich im „Art Institut of Chicago“ ab – eine tolle Sammlung, die man so richtig genießen kann, wenn man Kunst- und Sammlungsgeschichten Europas und Amerikas einigermaßen kennt.

David Hockney,American Collectors,1968

David Hockney,American Collectors,1968

Wunderbar präsentiert durch kleine und kleinste Arbeiten sind die 1930/40 Jahre, die Jahre der Emigration europäischer Künstler nach Amerika. Hier umfängt den Besucher die Intimität der surrealen und phantastisch-realen Gedankenwelten. Wohltuend war die Fülle der Besucher, vor allem der Familien mit Babies und Kindern.

Niagara Falls – gefroren

23.02.

Selbst mit Vera im Vordergrund

Selbst mit Vera im Vordergrund

Amerikas berühmtester Wasserfall – gefroren. Also stillgelegt? Das ist doch eine Reise wert, vor allem, wenn das für amerikanische Fahrkultur so nahe ist: nur 4 Stunden Anfahrt und 4 zurück.
Die Zeit gilt allerdings nur für die schnellste Strecke. Um durch die Wälder und verstreuten Siedlungen zu fahren, braucht man dann doch schon mehr als die Hälfte an Zeit oben drauf. Also waren wir erst am Nachmittag vor Ort und die Parkplätze auf der US Seite belegt. Immer, wenn wir am Eingang des Parkplatzes vorbei kamen, wurde gerade wieder das Schild „lot closed“ aufgestellt. Dann fuhren wir über die Brücke auf die kanadische Seite.Wir hatten ein Motel gebucht, dass uns einen wirklich kurzen Weg zu den Fällen ermöglichte. Die letzte Zahn- radbahn nach unten erreichten wir noch. Der Himmel war grau – und das Display der Kamera zeigte auch nur grau. Die erste Fotosession war eine Art blind date. Es kamen trotzdem noch einige passable Aufnah- men dabei heraus.
Wir waren natürlich nicht allein, aber ich stand nie weiter vom Geländer entfernt, als in der zweiten Reihe. Die Reihe vor mir besetzten meist chinesische Besucher. Da konnte ich gut meine Kamera über ihre Köpfe halten. Jeder Schritt bot einen neuen Anblick; immer meinte ich, das ist der schönste Blick. Es gab keinen schönsten Blick.
Die schönsten Bilder produzierten die eigenen Augen. Da konnte man sich den weiß gefrorenen Flusslauf intensiv betrachten, denn dass darunter noch das Wasser brausend floss, wusste ich ja und hatte es vor dem inneren Auge. Aber weil man sich nicht satt sehen konnte, drückte ich doch immer wieder auf den Auslöser. Es gibt wunderbare Fotos von den drei Wasserfällen des Niagara und herrliche Zeich- nungen und Malereien. Sie sind appetizer und Erinnerungen; die entscheidenden Eindrücke kommen vom eigenen Erleben. Am Wochenende waren Wasser, Himmel, Eis und Schnee nahezu eine Farbe. Sie ließen jede Kontur verschwinden. Von der kanadischen Seite aus konnte man die immer noch fließenden Wasser vom Bridal Veil und American Fall kaum von den mächtigen Eisblöcken, die sich über den Felsen auftürmten, unterscheiden. Wasser war natürlich noch zu sehen, aber es war gebändigt vom Eis und wirkte weit ruhiger als auf Abbildungen oder vielleicht auch im Sommer. Das Grau schuf eine Gemeinsamkeit.
Was man am Horseshoe Fall, dem großen Wasserfall auf der kana- dischen Seite, noch als turbulent empfinden konnte, wirkte auf der amerikanischen Seite durch den weitläufigen dick verschneiten Park geradezu romantisch.
Es war ein entspanntes, sehintensives Wochenende, das die Kälte sympathisch machte.
Übrigens: Wikipedia hat eine schöne Seite für die Niagara-Fälle gestaltet. Man kann mit deren Fotos meine Eindrücken gut vergleichen.

Niagara2_da wo derFall beginnt3Niagara2_das Erstarrte+dasFliessendeNiagara2_daSchautmanNichtmehrDurch

gut gelaunte Besucher auf der amerikanischen Seite

gut gelaunte Besucher auf der amerikanischen Seite

Niagara2_dasVölkchen2

 

 

Vor den Klippen: ein idyllischer Fluß (amerik. Seite)

Vor den Klippen: ein idyllischer Fluß (amerik. Seite)

 ein Blick auf den Niagara Fluß


ein Blick auf den Niagara Fluß

Ein Abschiedsblick:

Niagara_Blick auf BridelFallVon der Umgebung der Niagara-Fälle

Niagara2_Beton schaut übers WasserNiagara_Umgebung2

 

 

Niagara2_Weg aufwärtsNiagara_Umgebung1

 

 

 

der Alltag in Grau und mit amerikanischer Technik

der Alltag in Grau und mit amerikanischer Technik

Philadelphia – Häuser und bunte Mauern

19.92.

Zweieinhalb Tage in Philadelphia und das im Winter – da kann man die Stadt nicht entdecken, nicht würdigen und vielleicht sogar nicht lieben lernen.
Ich habe aber zweierlei in dieser Zeit gelernt: ich bin ein Stadtmensch, brauche die städtische Umgebung und ich bin von Häuser fasziniert.
Vielleicht ist „fasziniert“ zu stark im Ausdruck, aber schon bei der Fahrt down town hätte ich aus dem Autofenster alle Straßen abfotografieren können. Das hat sich beim Gang durch große und kleine Straßen down town, getrieben von eisigem Wind, weiter bestätigt. Nur die klammen und bald sehr kalten Finger hinderten mich daran, ständig auf den Auslöser zu drücken.

Einfahrt nach Philadelphia von Nord-West

Einfahrt nach Philadelphia von Nord-West

Ich bereite mich meist nicht auf eine neue Stadt vor, denn dann suche und sehe ich vor allem das Angelesene oder Angesehene. Entdecken möchte ich eine Stadt für mich; dazu muß ich offen, d.h. unbeeindruckt sein.
Durch Fotos, die mir Tochter Vera im vergangenen Jahr geschickt hatte, wußte ich von den vielen
Wandmalereien (murals). In Bremen hatte ich in den 1980er Jahren das Wandmalerei-Projekt miterlebt. Es war ein (gelungener) Versucht, identitässtiftende öffentliche Bilder mit einer Überlebenshilfe für Künstler in der Stadt zu kombinieren. In Philadelphia scheinen die farbigen Wände, einer Wandinschrift zufolge, aus ähnlichen Gedanken entsprungen zu sein.

Ein Bild von Haus vor die Stadt gestellt

Ein Bild von Haus vor die Stadt gestellt

Der Blick ins Internet korrigierte diese Vorstellung in wenig, denn das murals Programm wird als hilf- und erfolgreiche Wiedereingliederung für Gefangene eingesetzt.

Hauswand in einer schmalen Straße_Detail

Hauswand in einer schmalen Straße_Detail

Hauswand-Collage_Detail

Hauswand-Collage_Detail

In Philadelphia wird es als städtisches Programm geführt, in Deutschland waren Bremen und Niedersachsen auch in dieser Hinsicht Vorreiter, indem sie Künstlerprojekte (Siegfried Neuenhausen!) mit „Knackis“ ermöglichten.

Strassenleben ist Nachbarschaftsleben

Strassenleben ist Nachbarschaftsleben

Die wenigen Beispiele, die ich den kalten Stunden abringen konnte, vermittelten mir tatsächlich den von den Verantwortlichen in Philadelphia eingeschlagenen Weg des gegenseitigen Respektierens, den man gut an den murals selbst ablesen kann. Es kommt viel persönliches Erleben und Erfinden in den Wandgestaltungen durch, auch wenn es oft durch eine „fracking“-Arbeitsweise gebrochen ist. Für den Fremden sind die Personen auf den Bilder ja sowieso persönlich nicht bekannt.

Geteilte Nachbarschaft - oder mißverstande murals

Geteilte Nachbarschaft – oder mißverstande murals

Murals sind Vorläufer und seriösen Versionen von Graffitis. Als murales entstanden sie in Mexico City in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Graffiti wurden sie in der USA in der zweiten Hälfte zu einem Ausdruck des Aufbegehrens gegen „weiße“, bourgoise Kunst und einer Aneignung der Stadt durch eine spontane, improvisierte „eigene“ Ausdrucksweise farbiger und schwarzer Künstler.
Graffitis habe ich in Philadelphia keine gesehen.

Phil_2Häuser

Als ich am letzten Morgen im frisch gefallenen Schnee die Baltimore Ave entlang zur Universität ging, begleiteten mich die Stadthäuser im so typisch amerikanisch abgewandelten viktorianischen Stil. England hat die Sprache und die Architektur für die europäische Eroberung und Besiedelung der heutigen USA gestellt, auch wenn gerade in Pennsy- lvania viele Ortsnamen deutlich französischen oder italienischen Ursprungs sind. Mit dem Namenszusatz „burg“ hat sich das Deutsche verewigt: Pittsburg, Harrisburg etc.

Ein Hauskubus wie bei Rachel Whiteread

Ein Hauskubus wie bei Rachel Whiteread

Die traditionelle Architektur, wie sie vor allem in den Wohnhäusern auch heute noch gepflegt wird, hat für mich immer noch etwas Vertraut-Fremdes. Und der Anteil des Fremden macht sie so reizvoll. Ich weiß zwar, wie sie innen aussehen, aber ich nehme sie im Grunde nur als Kuben war, mit Ausbuchtungen, versprochenen und verweigerten Einblicken. Rachel Whiteread, die englische Künstlerin (1963 geb.), kommt mir in den Sinn, auch mit dem Hinweis, mit ihren Beton-Mumifizierungen im Grunde die Luft im Inneren zu „konkretisieren“. Die Auseinandersetzung vom Innen und Außen der Objekte bewegt ja seit den 1980er Jahren einen Teil der Künstler. Wir selbst können ja nicht zugleich innen wie außen sein, möchten aber häufig die Ganzheit von Wohnen, Leben, Rausgehen und Reingehen spüren. Goethe hat dafür das Bild des Einatmens und Ausatmens gewählt (und hat es zeitgemäß griechisch ausgedrückt: systole und diastole).

Phil_Park
Und irgendwo dazwischen, wie bei meinem Gang entlang der Baltimore Ave, gibt es dann einen verschneiten Park, in den die Kinder mit ihren Schlitten strömen, der aber dennoch im Grunde unberührt bleibt.

Auh eine Art Mengenlehre

Auh eine Art Mengenlehre

Alma Mahler in Philadelphia

19.02.2015

Das Tagebuch der Alma Maria

Muss man nach Philadelphia fahren, um ein wenig vom innerlich und äußerlich unsteten Leben von Alma Mahler / Alma Mahler-Werfel zu verstehen?
Mir hat es geholfen. An zwei kalten Wintertagen mit gleichwohl hellem, blauem Himmel sass ich im 6. Stock der Van Pelt Universitätsbibliothek in Philadelphia im abgesicherten, aber gläsernen Raum der Rare Books Abteilung. Dort befindet sich der Nachlass von Alma Mahler. Von 42 Kästen mit Papieren hatte ich mir die box 31 erbeten, in der sich das Typoscript der „Tagebücher der Alma Maria“ befindet. In nur zwei Tagen hätte ich mich nicht in die Schrift von Alma Mahler einlesen können.

handschriftlicher Einschub von Alma Mahler in das Typoscript

handschriftlicher Einschub von Alma Mahler in das Typoscript

Den Namen Alma Mahler kennt, wer in irgendeiner Weise mit der Musik, der Literatur oder der Kunst der ersten drei Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts Kontakt hatte. Sie war die Muse – und vielleicht auch der Vampir – der Komponisten Gustav Mahler, Alexander Zemblinsky, Arnold Schönberg und Alban Berg, der Maler Gustav Klimt und vor allem des jungen Oskar Kokoschka und auf eine exzessive Art und Weise die Mentorin, Geliebte und Ehefrau von Franz Werfel, eingeschlossen der Kreis der expressionistischen Dichter Österreichs. 1938 notierte sie in der Emigration in Paris: „Unser lieber Freund und Kumpan, der hochbegabte Ödön von Horvath, ist nicht mehr. Er war uns in den letzten Jahren in Wien ganz nahe gekommen. Besonders mir, der er alle Skizzen und Ideen zu neuen Stücken schickte. Er war mir von meiner „Platte“ – wie ich die jungen Dichter: Zuckmayer, Csokor und Horvath nannte, der liebste…Horvath war überaus triebhaft – hatte an jedem Ort eine Geliebte, aber sie waren alle unschön und reizlos; vielleicht suchte er die Banalität im Weibe.“ Diese Sätze sind ein Beispiel für ihr Schreiben, das Privates von beiden Seiten mitteilte, der Seite der Autorin und der Seite der Beschriebenen, schonungslos ebenso wie weit überhöht oder übertrieben, mitteilte.
Alma Mahler stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor ihrem 60. Geburtstag (s..S. 278, Mein Leben), Sie hatte 1902 mit 22 Jahren den um 19 Jahre älteren Komponisten Gustav Mahler geheiratet,1929 heiratete sie den 11 Jahre jüngeren damals eher unbekannten Autor Franz Werfel.

 abgeschriebene Tagebuchseite von 1915. Am 18. August heiratete sie Gropius

abgeschriebene Tagebuchseite von 1915. Am 18. August heiratete sie Gropius

Von 1915 bis 1920 war sie mit Walter Gropius verheiratet. In ihrer publizierten Biographie „Mein Leben“ spielt Walter Gropius nur einen kleinen Teil. Nachdem, was man in diesen siebzehn Erwähnungen (etwa die Hälfte der Kokoschka-Erwähnungen) liest, würde man erwarten, dass zwischen beiden nie wieder ein Wort gewechselt wurde. Doch am Ende der beiden Lesetage nahm ich mir noch kurz Zeit, ein paar Briefe von Gropius in die Hand zu nehmen. Alma, die nie Gropius heißen wollte und nie mehr als ein paar wenige Tage mit ihm gemeinsam verbrachte, und Walter Gropius hatten im gemeinsam in den USA verbrachten Jahren ein offensichtlich gutes Verhältnis. Man ging freundlich und zuneigend miteinander um und beide trafen sich mehrfach.

Alma reist von Weimar nach Amsterdam und war wieder die Witwe Mahler

Alma reist von Weimar nach Amsterdam und war wieder die Witwe Mahler

Postkarte von Amsterdam nach Weimar, 1920, dem Jahr der Scheidung

Postkarte von Amsterdam nach Weimar, 1920, dem Jahr der Scheidung

 

 

 

 

 

 

In den beiden Tagen im angenehmen kleinen Lesesaal mit sehr freundlichen Mitarbeitern konzentrierte ich mich auf die Schreibmaschinen-Version der Tagebücher. Nach meiner Einschätzung ist es eine Manuskriptform für die Veröffentlichung ihrer Autobiographie, die 1958 erst in englischer Sprache unter dem Titel „And the bridge is love“ erschien und zwei Jahre später, von Willy Haas redigiert, auf deutsch als „Mein Leben“. Erst in der deutschen Fassung wurden Tagebuchpassagen mit immer wiederkehrenden anti-jüdischen Formulierungen ausgemerzt. Für die englische Fassung hatte sie sich noch strikt gegen solche Streichungen ausgesprochen.
Über Alma Mahler zu schreiben, bedeutet fast zwangsläufig, mit Klischees umgehen zu müssen. Ihr Schreiben ist – wie vermutlich ihr Denken und Fühlen auch – extrem sprunghaft und launisch. Alles sind durchaus klare Formulierungen, aber sie gelten oft nur für den Moment ihrer Niederschrift. Ich würde sie als weiblichen Strindberg bezeichnen, ohne beweisen zu können, dass dies logisch oder gerechtfertigt ist. Ich habe sowohl Strindberg als auch Alma Mahler während der 1960er Jahre gelesen und in meine damaligen Studien einfließen lassen. Vielleicht ergab sich daraus dieser spontane Gedanke.
Vergleiche ich nach zwei Tagen intensiver Recherche die gelesenen Passagen mit dem vorher Gewussten, dann stelle ich fest, das mir jedes Teil glaubhaft in seiner Emotionalität erscheint. Sprünge innerhalb der Bewertungen, Auf und Abs im Gefühls- und Beziehungsleben unterliegen aber keiner logischen Zuordnung. Alles scheint willkürlich und einmalig zu sein. Damit umzugehen, ist für mich noch schwierig. Traut man dem eigenen Eindruck, bekommt man – so hoffe ich – einen authentischen Eindruck von der Gefühlswelt der Jahre zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg. Wesentlich beigetragen zu diesem Gefühl haben zwei Briefe von Walter Gropius an Franz Werfel, die während einer hochdramatischen Beziehungskrise der Ehe Gropius-Mahler, direkt und indirekt hervorgerufen durch Werfel, geschrieben wurden. Der uns fast nur aus seinen theoretischen Schriften bekannte Gropius benutzt hier die gefühlvollen Formulierungen der utopisch-sozialistischen Schriftsteller und Künstler dieser Jahre. Da spürt man, dass auch Gropius, der ja das Denkmal für die Märzgefallenen in Weimar 1920 entworfen hatte, in diesem Kontext dachte und fühlte.
Dies sind erste niedergeschriebene Gedanken zu der Recherche, noch keine Ergebnisse.
(Eine sehr gute Einführung in Alma Mahlers Leben gibt http://www.alma-mahler.at in deutsch und englisch.)

 

Valentinstag

14.02.15

So recht für die Liebe geschaffen ist das Datum des Valentins Days nicht. Ich war am 14. Februar mit Tochter Vera und Partner Marcus auf dem Weg von State College nach Philadelphia. Wir machten in Harrisburg, der Hauptstadt von Pennsylvania und in Lancaster Halt. Das Wetter war ohne den angesagten Schneefall recht angenehm, aber ziemlich kalt. Die Landschaft lag während der Fahrt offen und grau vor uns. Das Tomtom war auf den kürzesten Weg eingestellt und führte uns deshalb über viele kleine und versteckte Straßen der schütteren Besiedelungen. So sah ich die allmähliche Veränderung der Architektur; neben die Holzhäuser traten erst vereinzelt, dann immer häufiger Backsteinhäuser, die vertrautere Fassaden vorwiesen (vor allem, wenn man in der Nähe von Bergmannssiedlungen im Ruhrgebiet aufgewachsen ist).
Harrisburg und Lancaster haben ein kompakteres Stadtbild als das, was ich bisher von State College gesehen habe. Hier kann ich mir eher vorstellen zu leben, als in der ländlich geprägten Universitätsidylle.
In Harrisburg am Ufer des Susquehanna River fand ich drei mit Schals geschmückte Bäume. Sollten sie wie ein früher Hinweis auf ein frühlingshaftes Osterfest mildes Wetter beschwören?

Am Ufer des zugefrorenen Susquehanna Rivers

Am Ufer des zugefrorenen Susquehanna Rivers

Ein Hinweis an einem der Schals sagte aber, dass es eine Hilfe gegen die beißende Kälte sein sollte, für alle, die darunter litten.

Kleine Gebrauchsanweisung

Kleine Gebrauchsanweisung

Nicht weit von den mit Schals dekorierten Bäumchen fanden wir auf zwei Parkbänken – des kalten Wetters wegen nicht besetzt – weitere Liebesgaben für Frierende. Was wir als einen Hinweis verstanden, dass es auch in Harrisburg homeless people gibt. Ob ein oder zwei Schals gegen die Minusgrade hier helfen, steht zu bezweifeln, aber die offensichtlich eigens für den Valentinstag angefertigten Warmhalter waren ein anonymer Hilfeversuch, der zumindest die Strickenden selbst (innerlich) erwärmt hat.

Ein eigenartiger Kontrast entstand zwischen den Valentins-Gaben auf den verwaisten Bänken und dem zugefrorenen Fluß, der unter sieben Brücken (vorn über einem Dutzend) zum Verweilen gezwungen war.

Blick auf drei der Drei der sieben Brücken, die wir mit einem Blick erfassen konnten

Blick auf drei der Drei der sieben Brücken, die wir mit einem Blick erfassen konnten

 

 

 

 

 

 

Liebevoll gemeinte Hilfe

Liebevoll gemeinte Hilfe

In Lancaster, eine gute Autostunde von Harrisburg entfernt und immer noch 160 km vom Ziel Philadelphia entfernt, kamen wir an einem kleinen Ladenlokal vorbei, das durchs die großen Fenster wie ein Café aussah, in dem sich Paare gegenüber sitzen. Beim genaueren Hinsehen bemerkte ich, dass dort die Valentins-Freudige für einander Geschenke bemalten. Eines der konzentriert-freudigen Gesichter durfte ich von außen portraitieren.

Beim Liebesspiel mit Pinsel und guter Laune

Beim Liebesspiel mit Pinsel und guter Laune

Wenige Schritte weiter gab es eine Bäckerei, die verführerisch-bunte Valentinskuchen anbot. Gerne hätte ich für Vera und Marcus – und für mein einsames Herz – ein paar bunte Süssigkeiten gekauft, aber ich ging wegen meines Fotografierens schon weit hinter den beiden her und die Warteschlange im Laden war lang. So mußten Erinnerungen uns den Abend versüssen.

 

Warten auf die schönen Kuchen

Warten auf die schönen Kuchen

Ich schaute zwischendurch mal schnell in einen Spiegel der Kunst:

Im Spiegel der Kunst

Im Spiegel der Kunst

Nur das Bequemste

10.02.

“Nur das Beste“ stand über einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, mit der ich am 3.02. nach New York flog. Er bezog sich auf die neue Nationalbibliothek von Rem Koolhaas für das Emirat Katar. In der gleichen Ausgabe gab es noch einen kleinen Artikel über den Brand einer Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in Moskau. In dieser Bibliothek war auch das Deutsche Historische Institut untergebracht. Möglicherweise war ein Kurzschluß in dem wohl recht maroden Gebäude der Grund für den Brand, der starke Schäden hinterließ.
Das Deutschen Historischen Institut war seit seiner Gründung 2005 ein Treffpunkt deutscher und russischer Wissenschaftler – und das weist auf einen Aspekt für Bibliotheken hin, der über die Präsenz von Büchern hinaus geht. In Bibliotheken kann man sich treffen, um über einfache oder komplexe Themen zu sprechen. Bücher bilden dafür Flair und Ambiente zugleich.

library Motto

Das Motto zur rechten Seite des Haupteinganges: „Die wirkliche Universität ist eine Sammlung von Büchern“

Ich besuchte gestern die Bibliothek der Penn State Universität in State College und war beeindruckt von der räumlichen Großzügigkeit und von der Atmosphäre der Entspanntheit.
“Nur das Bequemste“ habe ich deshalb über diesen Text gestellt. Die Bibliothek besteht aus zwei Flügeln, einem neueren (Paterno Library) und einem älteren (Pattee Library). Ich wurde von einem Freund ausschließlich durch den älteren Teil geführt – und das war verwirrend genug.
Durch eine Bibliothek kann man nicht spazieren wie durch einen Park, denn eigentlich ist eine Bibliothek für die Suche nach etwas da. Wer nichts sucht, wird in State College zumindest einen Arbeitsplatz mit WLAN, Computern und viele Ruhezonen finden. In die Bibliothek kommen viele Studenten, um in einem der „schweren“ und „tiefen“ Sesseln zu dösen oder schlafen. Die Sessel könnten aus Hollywoods Filmarchiven stammen und die vielfach ausladenden Lehnstühle waren Urzeit Ikea Möbel aus einer Zeit um 1920. Manche Säle erschienen mir wie College Schlafsäle.

Eine von vielen Ruhezonen - mit Hinweis "quiet place"

Eine von vielen Ruhezonen – mit Hinweis „quiet place“

In den offenen, leicht zugänglichen Räumen der Bibliothek sah ich vor allem Studierende vor ihren Computern. Die Bücher an den Wänden blieben meist dort unberührt stehen.

Ein verlassener Arbeitsplatz

Ein verlassener Arbeitsplatz

Blick auf einen neugierigen Besucher

Blick auf einen neugierigen Besucher

 

 

 

 

 

Das ändert sich ein wenig, wenn man nach einem bestimmten Buch sucht; dann nämlich muß man durch breite Treppenhäuser oder, sehr anheimelnd, durch schmale und enge Treppenaufgänge (stacks) gehen, um in die meist niedrigen Bücher-Archive zu kommen. Dort stehen sie in langen Regalen dicht bei dicht. Kleine, enge Arbeitsflächen an den Fensterseiten ergeben spartanische Arbeitsplätze.
Auch wenn man im 3. Stock sitzt, fühlt man sich wie in einer Kata- kombe, abgeschottet von der Alltagswelt, hingegeben der Welt aus lesbaren Zeichen.

reading place - hier stehen die unterhaltenden Lektüren. Direkt am Durchgang "Freuds Mistresses"

reading place – hier stehen die unterhaltenden Lektüren. Direkt am Durchgang „Freuds Mistresses“

 

Einer von mehreren Ausstellungsräumen

Einer von mehreren Ausstellungsräume

Das Arbeitszimmer des Schriftstellers John O'Hara (1905-1970) als begehbare Ausstellung

Das Arbeitszimmer des Schriftstellers John O’Hara (1905-1970) als begehbare Ausstellung

 

 

 

 

 

 

Welch ein Unterschied zu der wie ein Colosseum wirkenden National-bibliothek in Beijing, die ich mit Respekt und Neugier vor drei Jahren besuchte. Sie war im Zentrum von unten bis oben offen. Man war Zuschauer und Akteur zugleich, wurde von lautlos durch die Räume gehende Kontrolleure ein- oder zurecht gewiesen und war nicht einmal an den Lese- und Arbeitsplätzen weg von der Welt.

Am kommenden Montag und Dienstag werde ich in der Bibliothek von Philadelphia sitzen und mich in die Welt von Alma Mahler-Werfel einlesen.

Centralis – ein ausgelöschter Ort bleibt unsichtbar

7.02.

Centralia ist eine Gemeinde, der es unter ihren Füßen oder unterm Hintern zu heiß wurde. Eine Kohlensiedlung, der von kokelnden Flötzen das Leben ausgebrannt wurde.
Sie wurde geräumt und vor 12 Jahren von der Post als nicht (mehr) existent erklärt; ihr wurde der ZIP Code genommen. Also existiert sie nicht mehr. Alte Landkarten verzeichnen Centralia aber noch und das TomTom findet sie auch noch.

 

Amish Land_Friedhof

Amish Land_Friedhof

Eine moderne Amish_Kutsche

Eine moderne Amish_Kutsche

Wenn man sich vom TomTom nicht auf dem schnellsten Weg von State College nach Centralia führen läßt, kann man gut einen halben Nachmittag mit der Fahrt füllen. Dann führt der Weg auf Landstraßen durch Amish Land und das heißt, durch tief hängende Wolken und nahezu menschenleere Gegenden. Vereinzelte Gehöfte passiert man, mal kleine, mal sehr respektable. Auch dem fremden, mithin ungeübten Auge fallen die vielen Friedhöfe auf. Sie liegen ohne Einzäunungen gern auf Hügeln, so als ob man den Toten weiterhin einen Blick über ihr altes Tätigkeitsfeld gewähren möchte. Ob es Wege zwischen den Gräbern gibt oder die Grabsteine einfach in einer Wiese stehen,sieht man bei Schnee natürlich nicht.
Die Landschaft besteht aus weißen Felder, die sich weit hin ziehen und aus dunklen (Straßen)Bändern, Häuser-Ansammlungen mit aufragenden Silos und Friedhöfen. Zwei Amish-Kutschen begegneten wir und einem jungen Mann in der dunklen Kleidung (ähnlich den orthodoxen Juden) mit einem zylindrischen Strohhut, der im Winter weithin auffällt.

Amish-Land_ein verstreutes Gehöft

Amish-Land_ein verstreutes Gehöft

Was typisch im Amish-Land ist, fällt kaum auf: dass die Gehöfte (meist) nicht an das Elektrizitätsnetz angeschlossen sind, also keine Leitungsmasten zu den Gehöften führen, dass zwischen den Häusern Wäsche hängt und dass der Mais in offenen Draht-“Käfigen“ aufbewahrt wird. Durch Städtchen fährt man selten.
Als der Nachmittag sich schon stark geneigt hatte, sagte das TomTom „you arrived your destination“. Wir sahen ein weißgetünchtes Haus abseits der Straße und eine russisch-orthodoxe Kirche, die hinter kahlen Bäumen hoch von einem Berghang grüßte. Keine Menschen.
Wir waren gekommen, um Überbleibseln der alten Ansiedlung zu sehen, aus der wegen der Glut im Berg die Menschen vertrieben worden waren. Wir fanden nichts. Neben einem von drei Friedhöfen, die nahe beieinander standen, gab es starke Bodenverwerfungen. Erst auf dem
Rückweg interpretierten wir sie als Auswirkungen der im Berg immer noch verschlossenen Glut.
Auch wenn man weiß, dass ein Ort geräumt und unbewohnbar gemacht wurde, vermutet man immer noch Relikte. Wir fuhren viermal über die ehemals zentrale Kreuzung und fanden keine Hinweise. Einen älteren Mann, der in einer leuchtend orangen Jacke uns entgegenkam und den wir vier Mal an verschiedenen Stellen des ehemaligen Centralia trafen, vergaßen wir zu fragen, so sehr wollten wir etwas finden. Bergab gab es eine kleine Kohlensiedlung, in der noch die Einfahrt zu einem Stollen war, in den man ab April noch einfahren konnte.

Alter Stollen in Mt.Camel. Auf dem Weg dorthin wurde Alex. Rae erschossen

Alter Stollen in Mt.Camel.
Auf dem Weg dorthin wurde Alex. Rae erschossen

Auch da scheint aber Kohle schon längst nicht mehr abgebaut worden sein.
In der Mitte des 19.Jahrhundert war die Kohle zusammen mit Eisenerzen die Hefe für die Prosperität Pennsyvanias – und es waren immer wieder Einzelne, die die Entwicklung fortführten. Oder es wird in erklärenden Texten immer wieder nur von Einzelnen, von Helden, geschrieben. Für Centralia war es der Bergwerksingenieur Alexander Rae, der auf einer Hügelkuppe 1842 eine Siedlung plante, die für Bergleute zur neuen Heimat werden sollte. Ab 1856 wurde Kohle abgebaut und damit erwachte der Ort zum Leben, wurde aber zugleich von Centreville in Centralia umbenannt, weil es schon ein Centreville im benachbarten Schuykill County gab. Kohleabbau wurde offensichtlich als eine „zentrales“ Anliegen der „neuen“ Zeit verstanden.
Der Gründer Alexander Rae wurde übrigens schon 1868 ermordet, angeblich von einer geheimes irischen Geheimorganisation. Gründe dafür findet man bei Wikipedia nicht angegeben, aber Hinweise, dass schon damals die Minenbesitzer sich willige billigere , nicht englisch sprechende Arbeiter aus Übersee holten, was den einheimischen den Lebensunterhalt raubte.
Steigt man in die Geschichte des Ortes ein, kommt man auch schnell in die Geschichte des amerikanischen Kapitalismus, die blutiger ist, als wir es uns heute gerne vorstellen.

Vier Wochen in Pennsylvania

State College_ein Blick in die nahe Ferne

State College_ein Blick in die nahe Ferne

 

2015.02.05

State College ist eine Universitätsstadt der staatlichen Universität und mein vorübergehender Wohnort ist der Vorort – suburban valley sagen die Schilder überall in der näheren Umgebung.
Der Schnee vereinheitlicht die Straßen und die Gartenflächen zu einem Bettlaken. Mit drei Spaziergängen, jeder etwa 1 Kilometer lang, habe ich mit die nähere Umgebung erschlossen. Vom letzten kam ich zurück und wußte (wieder), dass die amerikanische Fotografie – etwa von Lewis Baltz (rip) oder John Baldessari, die ich beide in Hannover getroffen habe – wirklich nur die sichtbare Umgebung abgelichtet hat. Hier stehen die Fotos in 3D herum. Da meine kleine Kamera keine Kälte mag (der Zoom ist ein wenig eingetrocknet), habe ich darauf verzichtet, die Fotos der Großen der amerikanischen strait photographie nochmals nachzustellen.

State College_mein Erkennenungszeichen

State College_mein Erkennenungszeichen

Ich bin froh, dass ich in Winter und Schnee hier bin, da habe ich zumindest einen Verfremdungseffekt, sonst sähe es hier aus wie in jedem USA Reiseprospekt.

State College_die allgemeine Identifizierung des Eigenen

State College_die allgemeine Identifizierung des Eigenen

Auch der Anfang hat einen Anfang

2015.02.04

… – zumindest, wenn es sich nicht um die Erschaffung der Welt handelt.
Bei meinen letzten China-Reisen fiel mir auf, dass ein Fremdeln immer dann unterblieb, wenn ich vorher etwas gelesen hatte, das mir wie ein Cicerone half. Für China waren es Richard Wilhelm, der als deutscher Missionar Ende des 19.Jahrhunderts nach Qingdao kam und einer der wichtigsten frühen Sinologen wurde, und Pierre Loti, der französische Berufsoffizier und Autor, der gern als französischer Mandarin bezeichnet wurde. Sein Kriegstagebuch aus der Zeit des sog. Boxer-Aufstandes hat mir Peking geöffnet . Dabei spielte es keine Rolle, dass Richard Wilhelm ein aufgeschlossener, geradezu progressiver Mensch war, während Pierre Loti als recht konservativ bezeichnet werden muß.
Die Bücher der beiden Autoren fielen mir zufällig in die Hände. Pierre Lotis (Les Derniers Jours de Pékin, 1902) Buch warf ich mehr achtlos 2012 in den Koffer, verwundert, dass ich dieses (mir unbekannte) Buch besass.
Für die aktuelle Reise in drei Abschnitten (USA – Japan – China) wollte ich gezielt vorgehen und landete im Dickicht der rationalen Entscheidungszwänge.
Für das mir noch unbekannte Japan halfen mir eine Autoren Erwähnung im Gespräch und eine Ausstellungsrezension in der Süddeutschen Zeitung . Die Erwähnung bezog sich auf Haruki Murakami. Auf gut Glück las ich „Kafka am Strand“ und fühlte mich nach 550 Seiten schon recht heimatlich in japanischen Gefilden, den inneren zumindest. In Dresden werden im Japanischen Palais in einer ungewöhnlichen Ausstellung unter dem Titel „Die Logik des Regens (logical rain)“ noch bis zum 22. Februar Katagami, Papierfärbeschablonen für Samurai-Stoffe, präsentiert. Dresden hat die weltweit größte Sammlung dieser Schablonen und für diese erstmalige Präsentation (nach 125 Jahren Archivleben) gibt es ein umfangreiches kostenloses Erläuterungsheft für die Besucher, das eine hochinteressante, glänzend recherchierte und geschriebene Kulturgeschichte des Kulturtransfers ist. Ich habe die Ausstellung leider nicht mehr sehen könne, aber das 51 Seiten starke Heft hat mich ganz in den Bann der Zeit des kulturellen und gesellschaftlichen Umschwungs im Japan der Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert geführt.
Diese 600 Seiten Text haben mich neugierig – wirklich gierig auf dieses Neue – gemacht und dann blieb mir nur noch das geistige Ticket für die Vereinigten Staaten. Da hatte ich schon Vorkenntnisse, aber sie führten mich in meine biographische Vergangenheit, machten nicht wirklich neugierig auf Neues. Kurz vor dem Zuklappen des Rollis legte ich eine „alte“, nie abgeschlossene Lektüre hinzu: Peter Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“. Es ist ein Amerika-, ein Abschieds- und ein Selbsterkennungsbuch, geschrieben 1971, und ebenfalls eine Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden.
Mit diesen Eindrücken und Hilfen begann meine Reise. – Und New York empfing mich, weil ich es dieses Mal nicht durchlaufen wollte, mit seiner backside, den Rück-Sichten ins späte 19.Jahrhundert und erinnerte mich damit an meine Designgeschichts-Vorlesungen. Semesterende und Reiseanfang fielen zusammen.

New York Tangente 1

New York Tangente 1

P1450480 P1450482 P1450493