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Erfolgreich räubern.

Gedanken zur Inszenierung von Manfred Trojahns „Was ihr wollt“ an der Staatsoper Hannover

Was wollt ihr in Illyrien? Was ihr wollt.

Spielte Shakespeare mit „Was ihr wollt“, um die Jahrhundertwende 16. / 17. Jahrhundert uraufgeführt, auf Verfilzungen bei Hofe (Boris Godunow, Phillip II. von Spanien, Heinrich IV. und Maria von Medici) und die Ausbreitung von Überseehandel und Unterdrückung an (englische Ostindien Compagnie und den Goldmacherei-Schwindel der Alchemisten), als er mal wieder Machthungrige und Liebende auf einer traumhaft schönen und zerstrittenen Insel zusammenführt?

Vielleicht. Aber nicht notwendigerweise, denn seine Grundkonstellation hat Shakespeare ja auch schon von griechischen und römischen Autoren übernommen. Und außerdem finden sich so viele Möglichkeiten des Verstehens und Mißverstehens im Text zu Trojahns Oper, dass es nicht verwundert, dass durch die Inszenierung auch noch die Geschichte und das Volkslied von den „Königskindern“, die nicht zueinander kommen konnten, einverwoben wird.

Klarheit herrscht nicht auf der Bühne, warum soll dann Klarheit in den Köpfen, Gedanken und Gefühlen des Publikums herrschen.

Trojahns Bemerkungen über sein Vorwissen von „Was ihr wollt“ ist da sehr erhellend (von mir erst nach dem Premierenbesuch gelesen), dass er durch Kenntnisnahme von Übersetzungen und Inszenierungen nie den Eindruck hatte, ein genuines Stück zu sehen, für das „ein bestimmter Autor in jedem Moment verantwortlich zu machen wäre“.

Die hannoversche Inszenierung von Balázs Kovalik ist nicht einfach zu konsumieren, aber ein anregender Spaziergang durch unsere abendländisch-internationale Kulturwelt.

Zentrum und Ausgangspunkt ist das Bühnenbild. Der Vorhang geht auf und die Bühne wird zum Wow-Effekt.

Da steht ein Pappkarton-Turm, eine Habitat-Landschaft, der ich sogleich das Wort New York zuordnete. Aber im Unterbewussten stehen auch die Bilder bereit, die sich die Sehnsüchte nach einer neuen Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufbauten: die babylonischen Türme in den noch freien Himmel, der Wunsch nach Geschwindigkeit und Abheben mit Luft unter den Flügeln. Aber die Bühne zeigt nur einen hoch aufgestapelten Kartonboxen-Turm. Wir assoziieren das genormte Wohnen, das eng aufeinander Hocken, die Trostlosigkeit, die Gleichförmigkeit. Die Protagonisten auf der Bühne waren demgemäß alle wie die Selbstoptimierer oder die Protestler unserer Tage gekleidet; es verschwand die Sichtbarkeit der Standesunterschiede, damit auch die Standesunterschiede selbst. Es liefen Namen auf der Bühne herum, die nichts besagten. Das Wort „Herzog“ trennte sich vom Wort „Orsino“, auch wenn zweimal ein Zusammenhang sprachlich hergestellt wurde. Der Text, dem Shakespeare Stück entnommen, sprach nur von Lieben, Habenwollen, Verrückt danach sein. Logische Stränge wurden gekappt; Shakespeare hatte das mit verwirrenden und verwirrten Textpassagen gemacht; bei Trojahn wird weitgehend auf logische Nachvollziehbarkeit verzichtet

In der Inszenierung wird mit Bühnenbild und Handlungsform die Zerrissenheit von Emotionen gezeigt: nichts macht wirklich Sinn, nichts ist ernsthaft nachvollziehbar, alles ist (Trumpscher) bullshit. Auftritte und Abtritte, Näherungen und Bedrohungen werden gespielt wie auf der Dada-Bühne im Cabaret Voltaire weiland in Zürich. Im Zerpflücken „bürgerlicher“ (oder doch vielleicht immer noch höfischer) Sinnschleifen stellt die Inszenierung Individualität her, die dennoch nicht Gleichheit bedeutete.

Es muß nicht alles schön oder gut sein, aber „märchenhaft“, formuliert mein Kopf, während meine Augen sich irritieren lassen durch Tarnbekleidung und Monteursanzüge auf der Bühne

Klug der Griff des Regisseurs zur Verdoppelung des gestrandeten Geschwisterpaares im Bild des Spiegels. Die einzigen, die sich direkt und wissend bespiegelten waren Viola und ihr Bruder Sebastiano. Sie waren die vereint getrennten Liebenden einer jeden tragischen Liebesgeschichte. Ihre Sehnsüchte trafen sich immer wieder in den Berührungen im gespielten Spiegelglas. Aber als die Herzensvergewisserungen doch einen „richtigen“ Partner zugeordnet bekamen, erlosch der Spiegel.

Die Inszenierung spielte mit dem Durchschreiten des Spiegels in Cocteaus Film, um in die ganz andere Welt zu kommen, in die der Wahrheit. In Cocteaus „Orpheus“ (als Theaterstück und „Orphée“ als Film) verschwistert sich die Durchlässigkeit des Spiegels mit dem Schneewittchen Thema (Volksmärchen und vielfache Verfilmung). Max Reinhardt hat in den 1920ern Cocteaus „Orpheus“ in Berlin inszeniert und das Spiegel-Motiv lässt sich da als intimer Gruß vom Regisseur Balász Kovalik an den Regisseur Max Reinhardt verstehen, dessen Eltern aus Ungarn stammten.

Mich hat das Bühnenbild als Zentrum des Spiels und meiner Fantasie mehr gepackt, als Musik und Gesang , aber zugleich auch offen für ein neues Hören der Komposition gemacht.

Die totale égalité, die auf der Bühne herrschte erscheint mir wie das Planieren eines Grundes für ein neues Haus; auf einem solchen Boden ist neues Leben und Bauen möglich – und das Verschwinden der sich gefunden habenden Liebenden in der Box am Ende der Aufführung entführt das happy end ins Nirwana. – Loslassen vom Überkommenen kann anstrengend sein. Der anhaltende Applaus war zugleich Befreiung und Beglückung.

Irrsinn bleibt Irrsinn und wird nicht zum Sinn

Auf der Bühne drehte sich ein Text- und Schrei-Rondell, dessen Anfang unverständlich und dessen Ende nicht vorhersehbar war. Nach mehr als drei Stunden, in denen sich das Publikum erstaunlich still und langmütig verhielt, waren Unmutswellen fühlbar und die vorübergehende Stille im Sprachduktus der Bühnenprotagonisten ging in leichte (Sprach)Späße über, die das Publikum mit Lachen und Ansätzen zu einem Schlussapplaus begleitete. Als dann, fast abrupt, wie ein unausgesprochenes „jetzt ist gut“ kein weiteres Wort mehr auf der Bühne fiel, befreite sich das Publikum mit einem lang anhaltenden Applaus.Ein Applaus als Dank für ein Ende des Spiels. Eigentlich nicht das, was Schauspieler erwarten. Doch hier war es spürbar der Dank für eine Erlösung.Ich fühlte meinen Körper erstarrt von der Anstrengung der Aufmerksamkeit und dem Bemühen, das Bühnengeschehen aufzunehmen, zu verfolgen und wenn möglich, ihm einen Sinn zu entnehmen. Abgerissene Satz- und Textfragmente drehten sich wie in einem Strudel immer wieder mal an der Oberfläche, mal sanken sie ins Unverständliche und tauchten immer wieder, sinnlos, auf.„Erniedrigte und Beleidigte nach dem Roman von Fjodor M. Dosto-jewski unter Verwendung der Hamburger Poetikvorlesung von Wolfram Lotz“ gastierte auf der Bühne des Schauspielhauses Hannover. Wurde hier das Publikum beleidigt und wurden hier die Schauspieler erniedrigt? Mit dieser Frage versuchte ich immer wieder, das Bühnengesche-hen zu strukturieren, vielleicht sogar zu hinterfragen. Ich weiß nicht, ob ich schon nach der ersten oder erst nach der zweiten Stunde dieses Schreitheaters aufgab. Alle Assoziationen, die ich abrufen konnte, zerschellten am Lautpegel, der aus dem Bühnenraum ins Publikum drang: der stille Handke, der seinen Figuren das abgestimmte Sprechen in den 1960er Jahren vorenthielt, sie schimpfen und durcheinander sprechen ließ, der nachsichtig aufgeregte Ionesco, der seine Figuren der Realität entzog, der improvisierende H.C. Artmann, für den beständiges Reden Überlebenskunst war, selbst Ariane Mnouchkine „Théâtre du Soleil“ und Peter Schumanns „Bread and Puppet Theatre“ waren ästhetische und vielleicht sogar wissenschaftliche Kommentare zur Theaterentwicklung. Einzig anarchische Polit-Theater Versuche, die ich in den 1960er Jahren in der Schweiz und in Polen durch Studententheater erlebte, kommen in etwa dem nahe, was das Staatsschauspiel Dresden produzierte.Warum muss man bei Dostojewski unbedingt und dauerhaft schreien, fragte ich mich – und erhielt nach der Aufführung unerwartet durch eine mitwirkende Schauspielerin die Erklärung: „Damit man seinen Text durchbringen kann und verstanden wird“. Wenn ich die knappen Informa-tionen richtig verstanden habe, dann haben die mitwirkenden Schauspieler und Schauspieler-innen aus Dostojewskis erstem Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ Textkollagen hergestellt, die sie auf der Bühne in freier Phrasierung und/oder Vollständigkeit in einen nicht deutlich fest-gelegten Improvisationsrahmen eingaben. Jede Figur auf der Bühne versuchte offensichtlich, ihren Text möglichst vollständig und hörbar um- und durchzusetzen. Das artete für mich in einen Schrei-Kampf aus. Vielleicht ist das eine zeitgenössische Art der „Publikums-beschimpfung“. Oder – und das wäre für mich die aktuellere Konnotation – in ein Ab- oder Schaubild unserer politischen Kommunikation: man beschallt sich gegenseitig, lässt einander nicht ausreden und hört einander auch nicht zu, hat ein Publikum und ignoriert es. Und so wie das Publikum der aktuellen Politik, die Bürger und Wähler, sich nicht trauen, gegen das Geschrei mit Forderungen um neues Personal das alte Ensemble abzulösen, so blieb auch das Publikum im Saal bis zum Schluss (überwiegend) sitzen.Vieles auf der Bühne geschieht „bildhaft“, möglicherweise sogar sinnbild-haft, aber alle entstehenden Bilder bleiben vage. Die Aufführung beginnt mit einer Einnebelung der leeren Bühne und aus dem Nebel rennen zwei Figuren an die noch freie Rampe und wieder zurück in den Nebel und wieder nach vorn. Wer wird da benebelt? War das ein Zeichen von Uneinsichtigkeit für den gesamten Ablauf des Abends? Auf einer großen (Lein?)Wand wird von den Ensemblemitgliedern, die gerade keinen Text-Kampf miteinander austragen mit großen und kleinen Pinseln schwarz auf immer düstrerem weiß gemalt. Immer wieder werden darüber Film- oder Fotosequenzen geblendet. Am Ende bleibt ein übergroßes kindlich anmutendes Gesicht mit Kulleraugen, das an Munchs Gesichter und an japanische Manga-Köpfe aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gemahnt. Mehrfach wird zwischendurch die große Bildwand gedreht. Weshalb? Für die Schauspieler das Ende-Zeichen eines (inneren) Themen-Text Zykluß. Bis zum Drehen hat jede Figur Zeit, ihren Text, ihren Zustand gegen die anderen Figuren durchzusetzen. Ein interessanter Aspekt – wenn er denn irgendwie dem Publikum vermittelt würde. Da die Vermittlung fehlt, wird das Drehen der bemalten Wand sinnlos für den Betrachter; es mutiert zu einem versteckten Bühnen-Signal.Jedesmal, erfuhr ich von einem Ensemblemitglied, sieht das Bild am Ende der Aufführung anders aus und gibt ein Portrait des Abends ab (das allerdings nur von Mitwirkenden gelesen werden kann). Warum finde ich keinen Hinweis auf den Ausgangspunkt oder die Ideen der Textbearbeitung im recht spartanischen Programmheft, denn die Vorlage ist ein Roman und kein Stücktext?Man muss nicht alles erklären, was auf dem Theater dargestellt wird, aber man sollte, was man sagen möchte, zeigen, also sichtbar und lesbar werden lassen. Das habe ich sehr vermisst.

Auf der Seite des Staatsschauspiel Dresden findet man kurze Ausschnitte aus einer der Aufführungen

Heinz Thiel

Unter https://www.staatsschauspiel-dresden.de/…/erniedrigte_und_beleidigte

findet man Fotos und Video-Ausschnitte aus einer der Aufführungen

 

Three Tales – more than tales Video Oper von Steve Reich

14.Mai 2016

Wenn der Applaus für das Publikum ein Mittel ist, sich selber Mut zuzusprechen – dann gab es eine starke, deutliche, eindrückliche, bewegende Performance zuvor.

Gestern Abend habe ich den Applaus am Ende der „Video Oper“ Three Tales & WTC 9/11 genau so empfunden – als einen Versuch, wieder zurück zu kehren in die Gegenwart, in die eigene Welt.

Steve Reich hat mit seinen beiden bislang einzeln aufgeführten, gestern in Hannover gekoppelten Stücken „Three Tales“ 1998-2002) und WTC 9/11 (2010) das Publikum nicht aus der Welt entlassen oder gescheucht, er hat es viel eher hineingepresst in das Innere, das wir gerne übersehen.

Beim Miterleben der 100 Minuten begleiteten mich die Assoziationen Oratorium, Schamanengesang, Kaddisch. Die Bilder, die die drei Geschichten vom Brand vom Luftschiff Hindenburg (1937), dem Atombombenversuch über dem Bikini-Atoll (1946) und dem ersten geklonten Lebewesen, dem Schaf Dolly (1997) evozierten, bekamen einen hör- und sichtbaren religiösen und metaphysischen Unterton.

Steve Reich und seine Frau Beryl Korot haben aus ihren Techniken und Materialien herausgearbeitet, was einzeln nur schwer sichtbar war.

Hindenburg Explosion in New Jersey 1937

Hindenburg Explosion in New Jersey 1937

 

ThreeTales_3_Hindenburg

ThreeTales_4_Hindenburg

Wie auch in Arbeiten aus dem frühen 1970-1990er Jahren wird der audio-visuell Beteiligte trainiert und überfordert zugleich. Nach einer gewissen Zeit wandern Gedanken, Assoziationen und Empfindungen zwischen den Ton- und Bild-Clustern hin und her. Man nimmt Nuancen wahr, die es zu Anfang scheinbar nicht gegeben hatte.

Bilder, Texte und Töne sind streng ihrer inhärenten Logik nach aufgebaut, doch je weiter die „Erzählung“ fortschreitet, desto emotionaler, emphatischer werden sie. Die Musik strömt durch die Bilder in Köpfe und Herzen des teilnehmenden Publikums. Immer schwerer wird man von den Ereignissen, die doch lange zurück liegen.

Schon an der Schnittstelle zwischen Three Tales und WTC 9/11 brauchte ich (und mit mir Teile des Publikums) einen Sprung aus der Dichte der Ereignisse durch einen sanft einsetzenden Applaus. Er war nicht vorgesehen.

Nicht aus einem chronologischen, werkzeitlichen Grund war es richtig (und notwendig), WTC 9/11 ans Ende der Aufführung zu setzen. Die Konzentration aufs Wort gab wieder ein wenig Luft und das Streichquartett – auf dem Podium live und mit zwei Versionen vom Band – bildete mit großer Energie eigene Bilder.

Mit dem Abstand einer Nacht habe ich den Eindruck, dass in jeder aufblitzenden Erinnerung, jedem Bild, jedem Text zugleich die schwebende Musik der Schwere steckt.

Die gedankliche und gefühlsmäßige Einheit der Performance durchläuft mich noch wie ein fracking.

 

Ein Gespräch von David Allenby mit Steve Reich und Beryl Korot, abgedruckt im Programmheft der Uraufführung von Three Tales, Wiener Festwochen 2002, und in Auszügen im Programmheft in Hannover ist für Entstehung und Ablauf sehr hilfreich.

 

 

 

Ganymed goes Europe – ein Theaterabend im Museum

Theater mit Publikum und Gemälde. Foto Xiao Xiao

Theater mit Publikum und Gemälde. Foto Xiao Xiao

27.09.2013

Für ein erstaunlich großes Publikum war gestern der abendliche Besuch im Museum der bildenden Künste am Heldenplatz in Budapest ein äußerst angenehmer und sehr erfolgreicher Theaterabend. Sie bekamen Soloauftritte exzellenter (und ich denke: auch sehr bekannter) Schauspielerinnen und Schauspieler geboten, ohne sich mit Stückinterpretationen beschäftigen zu müssen und hatten um sich nicht nur angenehme Mitmenschen, sondern auch hochkarätige Werke der klassischen Kunst als Bühnenbild. Über dieser Kooperation von Museum und Theater stand der Satz „Ganymed goes Europe“, ohne das man wissen konnte, ob das nun als Slogan, Thema oder Titel verstanden werden sollte. Es war nicht nur ein Treffen von Theater und bildender Kunst, sondern auch der Literatur mit den beiden darstellenden Künsten. Außerdem war es die Premiere eines Projekts, das die Städte Wroclaw, Wien und Budapest verbinden soll.

 

Von der vielfach preisgekrönten österreichischen Theatergruppe „wennessoweitist“ wurden „zwölf ungarische und internationale Autoren“ ausgewählt, literarische Texte über Meisterwerke des Museum, die sie inspirierten, zu erarbeiten.

Kontaktaufnahme mit dem Publikum beim warming up. Foto H.T.

Kontaktaufnahme mit dem Publikum beim warming up. Foto H.T.

 

In Budapest waren es zwölf ungarische Autoren, die vermutlich auch den Titel „international“ trugen. Gleicherweise sollen sich literarische Texte, schauspielerischer Ausdruck und malerische Intensität in Wroclaw und Wien treffen, allerdings erst im nächsten Jahr.

 

Im Sinne des strindbergschen Stationendramas und der politischen Theaterbewegungen der 1960er Jahre (Bred and Puppet Theatre und Theatre du Soleil) wanderte das Publikum von einer (Bild)Bühne zur anderen. Gewissermaßen nach einer inneren Dramaturgie stellte sich jeder Besucher das Bildprogramm selbst zusammen. Denn nur die Gemälde waren vorab ein sicherer Ausgangspunkt für die Erwartung (für Literaturbeflissene sicher auch die Namen der Autoren/innen). Die Texte waren ausschließlich in ungarischer Sprache und sie hatten alle eine monologische Struktur. Dadurch war es für Besucher ohne ungarische Sprachkenntnisse unmöglich, in die „Geschichte“ hereinzukommen. Anders als im Theater, wo Erzählungen dramaturgisch und durch Personenbezüge entwickelt werden und der Betrachter darüber eine Vorstellung vom Text erhält, versagte hier die (mögliche) Einfühlungskraft.

Schauspieler nach dem Auftritt vor einem Bild eines gehäuteten Heiligen. Foto Xiao Xiao

Schauspieler nach dem Auftritt vor einem Bild eines gehäuteten Heiligen. Foto Xiao Xiao

 

Was blieb, war der „Grundton“ der Darstellung: Anklänge antiker, römischer Gelage, und dunklere, körperfarbene Kleidungsteile (Decken, Umhänge, Hosen, Jackets), die eine Haut betonte Darstellungs- und Spielweise unterstrichen.

 

Die Darstellungen waren getragen von deutlich sichtbarer Leidenschaft und hoher Professionalität. Für den, der die Texte nicht verstehen konnte, waren es lebende Bilder, die sich den Clicheevorstellungen vom Leben lang zurückliegender Vor-Bilder zur Seite stellten.

 

Der größte Teil des Publikums genoss sichtbar die Darstellungskunst der Akteure. Die Augen hingen immer an den Protagonisten, nie am ausgewählten Vorbild, das häufig von den Besuchern verdeckt wurde. Und da die Auftritte, zwischen zehn und fünfzehn Minuten lang, sich periodisch wiederholten, waren die Schauspielerinnen und Schauspieler auch für das Publikum ansprechbar und beide Seiten genossen diese Nähe.

zu Goyas 'Mädchen mit Krug' - eine Mutter spricht über ihre zwei Kinder. Foto H.T.

zu Goyas ‚Mädchen mit Krug‘ – eine Mutter spricht über ihre zwei Kinder. Foto H.T.

 

Da mir der Inhalt der Texte verborgen blieb, erhielt ich auch keine Hinweise, wieweit die ausgewählten Gemälde, somit die Themen der Bild-Welten, eine Erläuterung des Projekt-Titels enthielten. Was bedeutet es, wenn Ganymed gen Europa geht? Steigt er dann wieder aus dem Olymp herab, wohin er (als Adler) von Zeus entführt wurde und wird wieder zum Sterblichen? An welche Art von Liebe und Zuneigung will Ganymed heute erinnern?

 

Und was mir als eine der zuästzlichen Fragen unbewantwortet blieb: warum werden in Wroclaw, Wien und Budapest auf Grund der sprachlichen Monokultur (die jeweils herrschende Landessprache) die Möglichkeiten kultureller Transfers ausgeschlossen? Was verbindet die drei Städte miteinander – außer, dass noch vor einem Jahrhundert in allen drei Städten Deutsch die vorherrschende Sprache war? Die Bürger dieser drei Städte kommen sich durch das Ganymed-Projekt keinen Schritt näher: sie bleiben in ihren Museen, bei ihren Bildern und in ihrer Sprache. Wo ist da ein Zugangs zum anderen, ein goes Europe?

hingegossen in der Kreuzigungspose. Foto Xiao Xiao

hingegossen in der Kreuzigungspose. Foto Xiao Xiao

 

Vielleicht gibt es eine einfache Erklärung für das Projekt: um Gelder aus dem Kulturtopf der Europäischen Union zu erhalten, braucht man drei Institutionen in drei verschiedenen Mitgliedsländern und einen (scheinbar) übergreifenden, zusammenhaltenden Titel. Da bietet sich der Ganymed-Stoff an, denn er ist zwar kulturell in Europa verbreitete, aber in sich nicht stark ausgeprägt. Man kann ihn gut an Hülse nutzen. Das ist für ein echtes „goes Europe“ aber eindeutig zu wenig.

 

Informationen über das Projekt „Ganymed goes Europa“ findet man unter www.wennessoweitist.com“. Da findet man auch die sehr schöne, poetische Definition „wenn es soweit ist taucht plötzlich auf, unvermittelt, an einem ungeahnten Ort. Assoziativ entwickelt es ein perfomatives Spiel durch Zeit und Raum, zitiert große Texte und transferiert sie in ein anderes Licht. Der andere Ort, der Unort wird zur Bühne, der Text wird zum Leben erweckt, die Inhalte werden neu kreiert.“ Aber die Inhalte bleiben nur bei dem, der die „richtige Sprache“ versteht. Bei Ganymed bleibt jeder zu Hause, geht nicht über die Grenzen und macht sich keinen „Fremden“ zum „Freund“.

Rauch und Wasser _ Sfumato von Rachid Ouradane

TANZtheater International Hannover  1.09.2013

Das Ende naht, „time is running out“; die Stürme kommen, die Wassermassen, die Hurricane und Tzunamis und der Mensch ist gehalten, schnellstens zu fliehen. Aber erst einmal verdöst er die Signale, den Rauch, der aufsteigt, wo er sitz, liegt, siedelt.

L'A "Sfumato" - die erste szene. Foto Jacques Hoepffner

L’A „Sfumato“ – die erste Szene. Foto Jacques Hoepffner

Mit Rauchsäulen und zwei bewegungslosen Menschen beginnt die Endzeit-Erzählung „Sfumato“  des französischen Choreographen Rachid Ouramdane. Dann folgt eine Erzählung (nur Stimme) über die großen Stürme, die Notwendigkeit der Flucht und die Einsamkeit, wenn man im 16. Stock eines Hauses lebt. Anschließend die Szene einer sich stürmisch drehenden Tänzerin (Lora Juodkaite), eines wandernden Hurricans, der die Menschen vescheucht. Der Bericht über ein in China immer wieder neu vertriebenes Dorf folgt, bis Ruhelosigkeit in Lethargie mündet (Großbild und Stimme) und dann kommt der große Regen. Es wird aber keine Sinflut daraus, es bleibt ein Wasserspiel, der den Tänzern und Performern Gelegenheit zu wunderbaren Spritzbildern gibt. Auch wenn gesungen, gesteppt und getanzt wird, bleibt es vom Regen an ein bedächtiges Schlurfen im knöcheltiefen Wasser , ohne Aufschrei, ohne Wegweiser zum Horizont, ohne Plot am Ende. Da hätten wieder die Rauchsäulen aufsteigen könne, wäre da nicht immer noch das Wasser gewesen, jetzt ohne versunken liegende und sitzenden Menschen.

Apocalypse, doch nicht now. Dramolett statt Espression.

„So fließen die Eindrücke seiner (Rachid Ouramdanes) intensiven Recherche-Reisen und des austausches mit den Menschen vor Ort in seine Arbeit ein und sorgen für Nähe zu den Themen, die Menschgen bewegen“, heißt es im Erläuterungszettel. Weit gefehlt.

Think Big – Vom Unbekannten bis zum Veitstanz

1.09.2013

TANZtheater International Festival in Hannover

Am ersten Festival-Abend gab es A Capella Gesang im weitläufigen Raum der Orangerie, am zweiten Abend energisch volltönende Musik aus großen Bassboxen in dem (empfunden) deutlich kleineren Theaterraum der Musikhochschule. Der weite, offene Raum der Orangerie war für den A Cappela Sound mit seinen Assoziationen nahezu ideal.

Gestern donnerte mich die Musik zur ersten Choreographie in die späten 1960er Jahre zurück. Da wurden mir im Schauspielhaus Zürich von der Kölner Rock-Band „Can“ in ähnlicher Weise die Bässe in den Körper geschleudert. Musik pur ist aber anders als Musik als Teil einer Choreographie. Bei „Chorus“ in der Orangerie war die Musik ein Teil der Choreographie, in der Musikhochschule war die Musik der Schrittmacher; sie kam vor der Bewegung zum Publikum. Ich bin nicht sicher, ob sie die Zuschauer öffnete, durch Töne gewissermaßen erweiterte, aber ich halte es nicht für abwegig.

Unknowing, Eingangssequenz. Foto: Ralf Mohr

Die erste Choreographie „Unknowing“ war von wilder, dunkler Musik geprägt und ebenso von wilden Bewegungen. Vieles davon blieb im Dunklen, nicht nur was das Bühnenlicht anging, sondern auch von seiner Lesbarkeit her. In rasender Geschwindigkeit wechselten die Bilder, die sich durch die Bewegungen von fünf Tänzerinnen und vier Tänzern ergaben. Zu Beginn erinnerten schlagende Basstöne mit Nachhall und eckige, eingefrorene Bewegungen an Fritz Lang und „Metropolis“. Die Tänzer (nur wenige Unterscheidungen zwischen männlich und weiblich) zeigten sich als Hosenmenschen.

Die Choreographie von Matthias Kass erschien mir, vom Ende des Abend her gesehen, wie ein Auftakt zu einer Trilogie aktuelle Zeitempfindung. Dabei haben alle drei Choreographen zwar mit dem selben Ensemble gearbeitet, aber nicht willentlich aufeinander Bezug genommen (zumindest ist davon in keiner Presseunterlage die Rede gewesen).

Der Abend präsentierte das Arbeitsergebnis des zweiten „Think Big“ Künstlerresisdenz-Programm vom Ballett der Staatsoper und von TANZtheater International. Es lädt pro Jahr drei von einer Jury ausgewählte junge Choreographen/innen ein, mit einem gemeinsam gecasteten Ensemble größere Choreographien zu erarbeiten. An diesen Erfahrungen mangelt es jungen Choreographen vielfach.

Auffallend an allen drei Choreographien war das Fehlen von langen Laufwegen – verständlich, denn dazu ist die Bühne in der Musikhochschule zu klein. Weil das Auseinanderziehen von kleinen Gruppen eingeschränkt war, ergaben sich in allen Stücken flächige Grundpositionen für die Tänzer. Man sah immer wieder ein Rechteck sich füllen, sich verdichten und sich ent-leeren.

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A Notion of Tides, Foto: Ralf MOhr

Was zum Ende der ersten Choreographie wie ein Verschlungensein in Wirbeln und Knäuelen erschien, beruhigte sich in der nächsten Choreographie „A Notion of the Tides“ des in Stockholm lebenden Japaners Shumpei Nemoto und zum Schluß in  „El Baile de San Vito“ der Kubanerin Maura Morales. In den drei Stücken schälten sich immer wieder Kleinstgruppen (zwei-drei Figuren) heraus, dann wieder eine größere Überzahlgruppe und dann wieder eine lockere geometrische Figur aus Solisten. Und immer wieder waren die pas de deux ein Umwerben, die pas de troi ein Kampf und die Gruppensituationen das Spiegelbild von Masse und Einzelgängern. Der Japaner Shumpei Nemoto kreierte zwei wunderbare pas de deux, einen kräftig, einen zart.

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Il Baile de San Vito (dt. Veitstanz), Foto: Ralf Mohr

Die Kubanerin Maura Morales (lebt in Düsseldorf) legte ihrem Gruppenspiel als Blaupause den Veitstanz zugrunde. Das unwillendliche Zucken, das sich zu wilden Tänzen ausweiten kann, grassierte immer wieder in Europa seit dem späten Mittelalter. Bis heute ist keine medizinische, keine soziale und keine gesellschaftliche Wurzel dafür als sicher verbürgt. Morales spielt mit allen diesen Aspekten wie Peter Weiss einst mit den Figuren Mara/Sade (1964). Sie beginnt mit einem Schau-Spieler, gekleidet wie in einer Heilanstalt und es endet mit einem durchgeknallten Haufen in allerlei weißen Bekleidungsstücken der Rüschenhemden-Zeit. Die Bewegung ist in ihrer Choreographie etwas, das durch den Körper geht. Der Geist ist nur ein Koordinator, scheitert aber zuweilen an den sich umeinander drehenden Händen über dem Schoß erschöpfter Tänzer. Ein Bild der Irritation und der Meditation. Und doch hat die Raserei kein Ende. – Der Abend hatte eines mit langem, sich steigerndem Applaus.

Trocken Brot mit Flöhen

Tanztheater International Hannover mit „Chorus“ von Michaël Phelippeau 29./30.08.

Der Abend entwickelt sich gemächlich. Es werden Markierungen am Bühnenboden angebracht, ein Notenständer wird positioniert, dahinter wartet eine zierliche Frau in Schwarz bis eine Reihe von ebenfalls in Schwarz gekleideten Frauen und Männern sich im Halbkreis um sie scharen. Sie singen ein Kirchenlied. Dann treten sie wieder ab, wenig später wieder auf. Sie singen stumm, als ob jemand das Playback vergessen hätte. Beim nächsten Auftritt sind sie wieder hörbar; immer mit der gleiche Bühnenpräsentation. Dann verschiebt sich der Auftritt: aus der Reihe der  Singenden ergeben sich zwei Spiralen, die sich zu Quadern formieren und beim Singen in langsamen Foxtrott-Schritten in sich selbst drehen.

Eine Stunde lang verändert sich für Augen und Ohr das immer gleiche Lied. Langweilig? Keineswegs. Man spürt immer mehr Spannung in sich aufsteigen, je häufiger es wieder „auf Anfang“ geht. Gesungen wird die Kantate „Nicht so traurig, nicht so sehr“ von Johann Sebastian Bach (BWV 384). Die Sängerinnen und Sänger sind wohltrainiert, haben gute, klare Stimmen, aber dennoch hört, wer nicht gleich weiß, um welchen Text es sich handelt, nur Bruchstücke des Textes. Bei einem ‚Stakkato’-Auftritt höre ich eine auseinander gerissene „See-le“, ein „viel“ und danach ein „wenig“ und als bei der folgenden Version drei einzelnen Sängern durch Körperbewegungen ein ungewolltes Tremolo auf- und abgezwungen wird, dringt ein „oh lass mich los“ an mein Ohr.

Hier weiß dann bereits jeder anfangs leicht verunsicherte Zuschauer, dass eine alte Form in Form und Ausdruck kräftig durchdekliniert wird. Ein wunderbares Hör-Bild ist der Auftritt als „laufender Gesang“ – so habe ich es genannt, als immer nur die durch die Bühnenmitte gehenden Sänger den Text singen. Wenn die einfachen Formen wie Stehen, Gehen abgehakt sind, dann kommen das Sitzen und Liegen und damit die „lebenden Bilder“. Als ob Bachs Kantate allmählich auf die Bühne tröpfelt, gehen die Sänger und Sängerinnen zu Boden und im Kopf der Betrachter baut sich das „Floß der Medusa“ auf (Gericault, 1819). Da verbindet sich der Text des Gottvertrauens mit dem Skandal einer Truppenentsendung nach Senegal 1816 und dem Kannibalismus auf dem Schiffbrüchigenfloß. Über eine Jagdankündigung, eine Tingstätte, an der immer in angepasster Weise die Kantate intoniert wird, erreicht das „hast du Gott, so hat’s nicht Not“ in höllenrotem Licht die Verdammnisbilder Luca Signorellis am Dom von Orvieto.

Damit ist aber noch lange nicht Schluss. In einem wohlgesetzten Rhythmus wird die Spannung durch die beiden Choreographen Michaël Phelippeau und Marcela Santander Corvalán hochgehalten. Nichts ist abgeschmackt, alles seriös und anregend.

Hier wird die Auflösung der Form durch andere Formen betrieben, und es bleibt doch immer Form – lesbar, erkennbar, authentisch. So könnte ich mir Piet Mondrian als Choreograph vorstellen. Oder eine Eric Satie Aufführung in Schwarz. Oder eine Mahlzeit von trockenem Brot und hüpfenden Flöhen.

Ein Abend für alle, die sich still freuen und ihr Herz im Beat schlagen lassen. Mit einem intensiven, langen Applaus bedankte sich das Publikum.

Foto: Alain Monot

Foto: Alain Monot

Foto: Alain Monot

Foto: Alain Monot