Archiv der Kategorie: gelesen + kommentiert

Zu Umbo auf verwachsenen Pfaden

Umbo 1973. Foto Hans-Jürgen Tast

 

Erinnerungen sind trügerisch. Sie transportieren neben Fakten auch Wünsche und angeeignete Kenntnisse, zuweilen sogar nur Einbildungen.

Über Erinnerungen lässt sich also meistens trefflich streiten, selten aber die Wahrheit finden.

Hans-Jürgen Tast hat seine spannende, überraschende und immer kenntnisreiche Kulleraugen Serie „Visuelle Kommunikation“ im jüngsten Heft (Nr. 53) dem Fotografen „Umbo“ gewidmet. Das liegt nicht nur nahe wegen der überbordenden Welle von „!00 Jahre Bauhaus“ Publikationen, sondern auch wegen seiner eigenen Erinnerung an seinen Foto-Lehrer Umbo. Aber auf 54 Seiten finden sich nur sehr vereinzelt tatsächliche Umbo-Erinnerungs-Fakten. Eine davon steht schon auf dem Titelblatt: „Ich habe es gesehen. Ich habe es erlebt. Ich habe es festgehalten“. Ein Ausspruch, den Umbo vermutlich leitmotivisch immer mal wieder getan hat.

Umbo ergänzt die zwei wichtigen Fakten fürs Erinnern – Sehen und Erleben – durch den sehr wichtigen Zusatz „festgehalten“. Was Umbo mit der Kamera festgehalten hat, ist für uns immer noch sichtbar, aber erleben können wir es nur gefiltert durch vergleichbares eigenes Erleben und durch Anschauung, also unsere Interpretation.

Die im handlichen A5-Format gehaltenen Hefte vermitteln meist keinen durchlaufenden Text. Die Seiten sind durch Abschnitte und Trennzeichen gegliedert und zeigen, dass man ausschnittweise lesen kann und soll; dass man Fakten- und Gedankenbrocken bekommt, die man selbst zu einem größeren Zusammenhang fügt. Die Hefte sind Materialsammlungen und Vorschläge (oder nur Hinweise) für einen roten Verständigungsfaden.

Von Umbo sind nicht viele Abzüge und nur sehr weniger Negative aus der Nach-Bauhaus Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges erhalten geblieben. Einen Œuvre-Überblick konnte man nie herstellen und darunter litt natürlich sein Renommee. Das Erhaltene aus Umbos Leben ist bislang nicht häufig und intensiv genug gezeigt worden, damit seine „Stellung“ gesichert und selbstverständlich gewesen wäre.

Hans-Jürgen Tast hat für seinen Umbo-Beitrag viel Material zusammengetragen. Hätte er daraus einen durchlaufenden Text gemacht, hätte man an den Bausteinen feststellen können, wo Umbos tragende Säulen waren. Eine Analyse von Umbos Bildsprache wäre ein wunderbares Werkzeug zum Verständnis seiner Qualität gewesen. Ich habe eine solche Analyse vermisst.

Hans-Jürgen Tast hat viele erläuternde Belegstellen zur Zeit und Umbos Umwegen gesammelt: von der Wandervogel-Bewegung etwa, einschließlich dreier Notgeldscheine der Stadt  Kahla von 1921, die einen der Protagonisten dieser Bewegung, Friedrich Lamberti-Muck, verspotten. Toll, dass Tast diese Beispiele aufgestöbert hat (in seinem Archiv?), aber er hat sie nicht in seinen „Zettelkasten“ verständlich einsortiert.

Der „Kokos-Schnitzer“ Umbo wird erwähnt (S.23), aber man erfährt nichts von diesem ernsten (?) oder nur heiteren Handwerk. Auch die durch Brief-Zitat belegte Übernachtung von Holger Fidus (wer ist das?) beim Wandervogel Lamberti-Muck ist nicht selbstreferentiell. Was soll dieser Hinweis?

Ich hätte lieber Aussagen und Gedanken zu ästhetischen Aspekten von Umbos Fotografie, respektive seinem Lehren oder Erklären gelesen. Interessiert hätte mich auch die Frage, ob für die Studierenden in Hildesheim damals Umbos Ästhetik politisch war; oder was seine Nachkriegsfotos den Nachkriegsstudierenden sagten. Haben sie die überhaupt gekannt, zu Gesicht bekommen?

Die Kathedrale von Umbos Lebenswerk ist zu einem Steinbruch geworden, so wie viele Kirchen ohne Gemeindeleben es in den vergangenen Jahrhunderten auch wurden. Wie aus den Kirchen-Steinbrüchen werden auch aus Umbos Fotowelt neue Bildwelten entstehen.

Die deutschen Vietnamesen – wie man das Fremde in sich zur Heimat macht

Es gibt Bücher, die liebt man, weil man selbst ein wenig von ähnlichen Geschichten erlebt hat.

Mit „Die deutschen Vietnamesen“ von Nguyen Phuong-Dan und Stefan Canham geht es mir so. Ich habe in den frühen 1990er Jahren auf der südkoreanischen Insel Cheju zwei junge „deutsche Koreaner“ getroffen. Sie waren in Hamburg geboren und aufgewachsen, mussten aber mit ihren Eltern als Halbwüchsige wieder zurück nach Korea. Um ihr Heimweh ein wenig zu lindern, gründeten sie einen „deutschen Club“, in dem sie im kleinen Kreis mit anderen nur deutsch sprachen und ihre deutschen Kinder- und Jugendjahre wieder aufleben ließen. Ihr lebhaftes Erzählen war mit viel Wehmut durchsetzt.

Diese Wehmut habe ich in „Die deutschen Vietnamesen“ wiedergefunden. Auch hier war der Ausgangspunkt die Stadt Hamburg. Die zwei Fotografen, die zu den „deutschen Vietnamesen“ reisten, leben in Hamburg. Nguyen Phuong-Dan ist in Hannover geboren (1982), Stefan Canham in Epsom, England (1968).

Nguyen Phuong-Dan arbeitete 2008 in der Programmabteilung des Goethe-Instituts in Hanoi und realisierte wenig später ein Fotobuch, das sich mit der Herkunft seiner Eltern beschäftigte, die in den 1970er Jahren unabhängig voneinander nach Deutschland kamen.

2008/2009 war Stefan Canham als artist-in-residence in Hongkong und veröffentlichte anschließend ein Buch über die Behausungen von chinesischen Wanderarbeiter auf den Dächern der Mietkasernen der Stadt.

Wie die beiden Autoren sich in Hamburg trafen, beschreibt das Buch nicht. Im Prinzip ist das auch nicht wichtig. Aber für mich wäre es ein „Puzzlestein“, denn als die boatpeople ab 1979 über den Flughafen Hannover nach Deutschland einflogen, arbeitete ich für den NDR und hatte einen Kollegen, der sie mit Mikrophon früh morgens in Empfang nahm. Beliebt waren diese Aufträge nicht in der Redaktion. Viel später lernte ich einige von ihnen in ihrem Tempel in Ahlem kennen. An ihren Anblick haben wir uns in den verflossenen Jahrzehnten so sehr gewöhnt, dass wir ihre „Fremdheit“ nicht mehr bemerken.

Das Buch über ein paar Schicksale nach Deutschland-Ost und Deutschland-West eingereiste Vietnamesen, die wieder zurück mussten oder wollten, ist ein Geschichtenbuch über Migration. Eines, das anrührt und Persönliches ausbreitet, was wir nicht fragen würden.

Aber das Persönliche ist das Tor zum Verstehen, weil man miteinander ins Gespräch kommt. Vor wenigen Tagen sass ich beim „Italiener“ (genauer: bei Massimo) und genoss mein Eis. Der neue Kellner addierte fürs Bezahlen die Zahlen in Spanisch. Sein Deutsch war ordentlich, aber deutlich von „aussen“. Ich bemerkte: „Jetzt weiß ich, woher Sie kommen.“ – „Wenn Sie es treffen, bekommen Sie meine Börse“, sagte er. Ich habe nicht geraten, er kam aus Guatemala. Als ich von der Familie meines Schwagers erzählte, die in Guatemala lebt und deren Enkelkinder eines nach dem anderen in Deutschland studieren und leben, war er sehr interessiert. Beim nächsten Eis werden wir weiter sprechen. – Das sind Einstiege in den Austausch und ins Verstehen.

Das vermittelt das Buch. Das ist die Qualität des Buches. Das Erleben der „Fremde“ wurde für diese „deutschen Vietnamesen“ zu einer geistigen oder emotionalen Erweckung, zu einem Lebensantrieb, zum push, die Zukunft heraus zu fordern.

Die Erzählungen sind sehr unterschiedlich vom Duktus der Sprache und vom Rhythmus des Erzählens. Die Fotos der beiden Autoren handeln nicht nur äußerlich vom „Fremden“, sondern auch ganz konkret für die beiden selbst, denn Dan hatte vorher kaum Interieurs fotografiert, Stefan Canham keine Portraits.

Ein „inneres Zögern“ meine ich den Fotos immer wieder anzusehen; sie sind nie gefühlig, auch wenn ihre Motive das nahe legen. Gerne stehen, wenn die Wohnsituationen von Außen gezeigt werden, zwei Fotos hintereinander, die Fassaden, Straßenecken oder Sitzbereiche vom gleichen Standpunkt aufnehmen, aber um etwa 45° gedreht. Es ist, als ob man den Kopf leicht dreht.

Die Fotos sind allesamt sachlich gehalten. Es gibt keine gefühlige „Weichzeichnerei“.

Ein Missgeschick ist mir aufgefallen, das dieser Distanz zur Gefühligkeit verbunden zu sein scheint:

Auf der Rückseite des Buches steht ein sehr treffendes Zitat zur Gefühlssituation junger Vietnamesen in Deutschland:

„Wir sind einfach Eis essen gegangen, zu der Zeit konnte man nichts anderes machen, die Discos haben uns rausgeschmissen, Fussball konnten die Mädchen damals nicht spielen, also sind wir Eis essen gegangen oder Pizza. Das war’s schon, wir waren glücklich, wenn wir uns getroffen haben.“

Daneben steht ein schwarz-weisses Foto einer jungen Vietnamesin in einem recht typisch deutschen Treppenhaus. Das Foto passt sehr gut zum Text. – Tatsächlich sind das aber die Sätze von Sang, einem jungen Mann, der als Siebenjähriger mit einem Touristenvisum mit seinen Eltern nach Deutschland kam. Das Foto von ihm hat eine ganz andere Sprache, als das kurze, treffende Zitat. Er war der einzige Vietnamese in einer kleinen Stadt. Er lernte mit Handzeichen und Benjamin Blümchen Kassetten Deutsch.

Bild und Text – das illustriert dieses Beispiel – erzählen nicht immer die gleiche Geschichten; manche sind sichtbar, manche nur hörbar.

Das Buch ist 2011 erschienen, aber für mich ist es schlicht alterslos und durch seinen sowohl aktuellen wie geschichtlichen Inhalt zeitlos = dauerhaft.

 

Bezug über www. peperoni-books.de (ISBN 978-3-941825-23-9)

 

Das Fotografier-Verbot in Kirchen

02.09.18

Schon beim ersten Besuch in Paduas Pilgerkirche „Il Santo“, Palmsonntag vor fast einem Jahrzehnt, wurde an den Kirchentüren deutlich darauf hingewiesen, dass in der Kirche das Fotografieren nicht erlaubt ist. Das überwältigende Gedränge beim Gottesdienst hatte mich bewegt, doch – in der cloud der Menschen – ein Stimmungsbild zu machen. Kurz darauf wurde ich von einem freundlichen, aber sehr bestimmten Herrn angesprochen, der mir auferlegte, das Foto wieder zu löschen. Er überprüfte auch den Löschakt. Mein Umgehen des Fotografier-verbots hatte mich damals beschämt. Und die immer noch vorhandenen, stark vermehrten Verbotshinweise, erinnerten mich wieder lebhaft an Palmsonntag.

Der Kirchenraum war beim aktuellen Besuch nur mäßig besucht, vor allem von Touristen. Am Eingang verteilten Männer, deren Aussehen und Auftreten zwischen security und seriösem Türsteher schwankte, dünne blaue durchscheinende Umhänge an Frauen und junge Mädchen, die zu viel Brust oder Bein mit in den geheiligten Raum nehmen wollten.

Ich nahm erst einmal den sich mir öffnenden Raum der Kirche auf, von dem ich vor allem den Kreuzgang und das Verteilen von Olivenzweigen (als regionaler Palmen-Ersatz) an Gläubige und  Zugereiste in Erinnerung hatte. Was mir gleich auffiel, waren die hochgereckten Arme und erhobenen Häupter, die eindeutig auf Smartphone-Displays gerichtet waren. Die Offensichtlichkeit erstaunte mich. Noch mehr allerdings, dass niemand die fotografierenden Besucher auf das Verbot hinwies.

Die stark besuchte Krypta hinter dem Hauptaltar, die in einen Reliquien-Raum für den hl.Antonius, gleich Il Santo, verwandelt worden war, war einer der touristischen Anziehungspunkte. Das langsame Abschreiten  der „Ikonostasen“, bei dem Gläubige und Touristen nicht von einander geschieden werden konnten, glich einem Abfilmen goldener Gefäße. Hinter einem runden, imposanten Tischrund saß ein alter Mönch, dessen Blick direkt auf die Gläubigen und Touristen gehen konnte. Er hätte jedes verbotene Foto gesehen. Aber er ließ seinen Kopf immer auf ein Brevier sinken, in das er seine Augen und Gedanken vertiefte.

Ich wanderte weiter durch die Kirche, hin zum gleißend weißen Erinnerungsaltar an Il Santo, dessen Rückseite einen Kraft spendenden Stein einfasste, den alle Gläubigen mit der flachen Hand berührten. Eine ähnlich Andacht habe ich im vergangenen Herbst im Ise-Schrein in Japan gesehen. Dort ragt der Stein ein wenig aus der Erde, ist abgesperrt, um Besucher und Touristen auf Distanz zu halten. Damit die Kraft auch sichtbar wird, werden die über den Stein gestreckten Hände auch fotografisch fixiert. – Den Akt der Kraftaufnahme hat in Padua (ausnahmsweise?) niemand fotografiert.

Über das hemmungslose, vor allem selbstverständlich hingenommene Fotografieren habe ich mich gewundert und auch geärgert. Ich kam mir, als jemand, der das Verbot ernst nahm, betrogen vor. Ich hätte gerne ein paar der eindrücklichen Raumkonstruktionen der Kirche fotografiert. Die meisten fotografierenden Besucher liefen demonstrativ durch den Raum.

Noch weitaus deutlicher wurde das ebenfalls in auffallender Häufigkeit angeschlagene  Fotografierverbot im eindrücklich ausgemalten Baptisterium des Doms ignoriert. Der Raum ist deutlich kleiner als Il Santo und komplett übersehbar vom Kustoden, der vor allem Postkarten verkaufte. Niemand wurde am Fotografieren gehindert. Nicht mal, wenn man direkt neben ihm stand.

Ich frage mich, warum das Fotografierverbot, das sicher nicht nur ausgesprochen wurde, um den Absatz von Postkarten mengenmäßig zu beeinflussen, so deutlich von dem Kirchen eigenen Personal geduldet wird. Damit ist das Verbot des Fotografierens obsolet. Da heutzutage nicht mehr geblitzt wird, ist eine Beeinträchtigung der Malereien nicht zu befürchten.

Da das Übertreten des Verbots nicht geahndet wird, kommt man sich als Besucher, der gerne (aus mancherlei Gründen) ein Foto mit nach Hause nehmen möchte, dumm vor, wenn man sich an ans Verbot hält.

 

Ein sympathisches Gedenken

Bei der Zeitungslektüre auch die Todesanzeigen zu überfliegen ist mir erst spät zu einem selbstverständlichen Teil der Informationsaufnahme geworden. Gerade bei überregional erscheinenden Blättern hält man sich damit auf dem Laufenden, wem man nachtrauern muss. Das ist nicht despektierlich gemeint, sondern sehr ehrlich. Mir ist es lieber, ich erfahre mit den Augen vom Ableben eines mir bekannten Menschen als mit den Ohren.

So erfuhr ich mit den Augen am 16. August durch eine kleine Anzeige in der Süddeutschen Zeitung vom Tode Enno Patalas. Die Anzeige war – und deshalb schreibe ich diese Sätze – von seinen nachbarlichen Mit-Hausbewohnern aufgegeben. Das hat mich sehr berührt. Da haben Menschen 50 Jahre lang miteinander in einem Haus gelebt und sie geben ihre Trauer nur gemeinsam kund.

Die Anzeige verweist auf ein Eingebettetsein in eine lange gepflegte Gemeinsamkeit.

Dass sich Nähe so äußern kann, habe ich durch diese Todesanzeige erstmals erfahren. Wunderbar.

Enno Patalas ist mir seit den frühen 1960er Jahren vom studentischen Filmclub der Universität Köln und vielen Stunden Filmgeschichte bekannt. Ich habe mit seinem Namen gelebt, ob ich ihn in Köln (?) mal gesehen habe, weiß ich nicht, wünsche es mir aber.

Der engagierte Uni-Filmclub in Köln hatte mir die Möglichkeit gegeben, mich in die bis dahin gewachsene Film-Geschichte einsehen zu könne. Es waren die Jahre der Nouvelle Vague, von „Letztes Jahr in Marienbad“ , die Anlass für nächtelange intensive Gedankenstreitereien waren.

Als ich nun bei Wikipedia nachlas, ob Enno Patalas vielleicht damals in Köln gewesen sein könnte, nahm ich mit Schmunzeln zur Kenntnis, dass er in Quakenbrück geboren wurde und das erinnert mich spontan und intensiv an eine kurze Szene aus dem Western „Der große Treck“ / „The Big Trail“, 1930 von Raoul Walsh, in dem John Wayne einen jungen Mann zum nahegelegenen Friedhof zum Grab von Jim Quakenbrück schickt. So zumindest in der deutsch synchronisierten Form. Er soll das Grab öffnen und etwas daraus mitbringen. Das Geheimnis vom Grab Jim Quakenbrücks: es war für die Trailer das Whiskey-Depot.

Eine große Todessanzeige von 79 namentlich aufgeführten Kollegen und Freunden für Enno Patalas erschien in der Süddeutschen Zeitung an diesem Wochenende (25./26.08.18)

Alma Mahler in Philadelphia

19.02.2015

Das Tagebuch der Alma Maria

Muss man nach Philadelphia fahren, um ein wenig vom innerlich und äußerlich unsteten Leben von Alma Mahler / Alma Mahler-Werfel zu verstehen?
Mir hat es geholfen. An zwei kalten Wintertagen mit gleichwohl hellem, blauem Himmel sass ich im 6. Stock der Van Pelt Universitätsbibliothek in Philadelphia im abgesicherten, aber gläsernen Raum der Rare Books Abteilung. Dort befindet sich der Nachlass von Alma Mahler. Von 42 Kästen mit Papieren hatte ich mir die box 31 erbeten, in der sich das Typoscript der „Tagebücher der Alma Maria“ befindet. In nur zwei Tagen hätte ich mich nicht in die Schrift von Alma Mahler einlesen können.

handschriftlicher Einschub von Alma Mahler in das Typoscript

handschriftlicher Einschub von Alma Mahler in das Typoscript

Den Namen Alma Mahler kennt, wer in irgendeiner Weise mit der Musik, der Literatur oder der Kunst der ersten drei Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts Kontakt hatte. Sie war die Muse – und vielleicht auch der Vampir – der Komponisten Gustav Mahler, Alexander Zemblinsky, Arnold Schönberg und Alban Berg, der Maler Gustav Klimt und vor allem des jungen Oskar Kokoschka und auf eine exzessive Art und Weise die Mentorin, Geliebte und Ehefrau von Franz Werfel, eingeschlossen der Kreis der expressionistischen Dichter Österreichs. 1938 notierte sie in der Emigration in Paris: „Unser lieber Freund und Kumpan, der hochbegabte Ödön von Horvath, ist nicht mehr. Er war uns in den letzten Jahren in Wien ganz nahe gekommen. Besonders mir, der er alle Skizzen und Ideen zu neuen Stücken schickte. Er war mir von meiner „Platte“ – wie ich die jungen Dichter: Zuckmayer, Csokor und Horvath nannte, der liebste…Horvath war überaus triebhaft – hatte an jedem Ort eine Geliebte, aber sie waren alle unschön und reizlos; vielleicht suchte er die Banalität im Weibe.“ Diese Sätze sind ein Beispiel für ihr Schreiben, das Privates von beiden Seiten mitteilte, der Seite der Autorin und der Seite der Beschriebenen, schonungslos ebenso wie weit überhöht oder übertrieben, mitteilte.
Alma Mahler stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor ihrem 60. Geburtstag (s..S. 278, Mein Leben), Sie hatte 1902 mit 22 Jahren den um 19 Jahre älteren Komponisten Gustav Mahler geheiratet,1929 heiratete sie den 11 Jahre jüngeren damals eher unbekannten Autor Franz Werfel.

 abgeschriebene Tagebuchseite von 1915. Am 18. August heiratete sie Gropius

abgeschriebene Tagebuchseite von 1915. Am 18. August heiratete sie Gropius

Von 1915 bis 1920 war sie mit Walter Gropius verheiratet. In ihrer publizierten Biographie „Mein Leben“ spielt Walter Gropius nur einen kleinen Teil. Nachdem, was man in diesen siebzehn Erwähnungen (etwa die Hälfte der Kokoschka-Erwähnungen) liest, würde man erwarten, dass zwischen beiden nie wieder ein Wort gewechselt wurde. Doch am Ende der beiden Lesetage nahm ich mir noch kurz Zeit, ein paar Briefe von Gropius in die Hand zu nehmen. Alma, die nie Gropius heißen wollte und nie mehr als ein paar wenige Tage mit ihm gemeinsam verbrachte, und Walter Gropius hatten im gemeinsam in den USA verbrachten Jahren ein offensichtlich gutes Verhältnis. Man ging freundlich und zuneigend miteinander um und beide trafen sich mehrfach.

Alma reist von Weimar nach Amsterdam und war wieder die Witwe Mahler

Alma reist von Weimar nach Amsterdam und war wieder die Witwe Mahler

Postkarte von Amsterdam nach Weimar, 1920, dem Jahr der Scheidung

Postkarte von Amsterdam nach Weimar, 1920, dem Jahr der Scheidung

 

 

 

 

 

 

In den beiden Tagen im angenehmen kleinen Lesesaal mit sehr freundlichen Mitarbeitern konzentrierte ich mich auf die Schreibmaschinen-Version der Tagebücher. Nach meiner Einschätzung ist es eine Manuskriptform für die Veröffentlichung ihrer Autobiographie, die 1958 erst in englischer Sprache unter dem Titel „And the bridge is love“ erschien und zwei Jahre später, von Willy Haas redigiert, auf deutsch als „Mein Leben“. Erst in der deutschen Fassung wurden Tagebuchpassagen mit immer wiederkehrenden anti-jüdischen Formulierungen ausgemerzt. Für die englische Fassung hatte sie sich noch strikt gegen solche Streichungen ausgesprochen.
Über Alma Mahler zu schreiben, bedeutet fast zwangsläufig, mit Klischees umgehen zu müssen. Ihr Schreiben ist – wie vermutlich ihr Denken und Fühlen auch – extrem sprunghaft und launisch. Alles sind durchaus klare Formulierungen, aber sie gelten oft nur für den Moment ihrer Niederschrift. Ich würde sie als weiblichen Strindberg bezeichnen, ohne beweisen zu können, dass dies logisch oder gerechtfertigt ist. Ich habe sowohl Strindberg als auch Alma Mahler während der 1960er Jahre gelesen und in meine damaligen Studien einfließen lassen. Vielleicht ergab sich daraus dieser spontane Gedanke.
Vergleiche ich nach zwei Tagen intensiver Recherche die gelesenen Passagen mit dem vorher Gewussten, dann stelle ich fest, das mir jedes Teil glaubhaft in seiner Emotionalität erscheint. Sprünge innerhalb der Bewertungen, Auf und Abs im Gefühls- und Beziehungsleben unterliegen aber keiner logischen Zuordnung. Alles scheint willkürlich und einmalig zu sein. Damit umzugehen, ist für mich noch schwierig. Traut man dem eigenen Eindruck, bekommt man – so hoffe ich – einen authentischen Eindruck von der Gefühlswelt der Jahre zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg. Wesentlich beigetragen zu diesem Gefühl haben zwei Briefe von Walter Gropius an Franz Werfel, die während einer hochdramatischen Beziehungskrise der Ehe Gropius-Mahler, direkt und indirekt hervorgerufen durch Werfel, geschrieben wurden. Der uns fast nur aus seinen theoretischen Schriften bekannte Gropius benutzt hier die gefühlvollen Formulierungen der utopisch-sozialistischen Schriftsteller und Künstler dieser Jahre. Da spürt man, dass auch Gropius, der ja das Denkmal für die Märzgefallenen in Weimar 1920 entworfen hatte, in diesem Kontext dachte und fühlte.
Dies sind erste niedergeschriebene Gedanken zu der Recherche, noch keine Ergebnisse.
(Eine sehr gute Einführung in Alma Mahlers Leben gibt http://www.alma-mahler.at in deutsch und englisch.)

 

Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika

Zu Fuß Amerika_2

Ein durchgelesenes Buch ohne Bleristiftmarkierungen, das gibt es bei mir eigentlich nicht. Und wenn doch, dann ist es ein Zeichen, dass mich wenig oder nichts an diesem Buch gefesselt hat und nichts davon hängen bleibt.

Bei Wolfgang Büschers „Hartland. Zu Fuß durch Amerika“ trifft das nicht zu. Nicht weil es doch eine Markierung gibt, die anzeigt, dass ich dort dem Autor ein Wissen voraus hatte, sondern weil mich an diesem Buch die „Mache“ vor allem interessierte.

Das Buch fängt mit einem Knaller an, der so effektvoll ist, dass der Verdacht entsteht, der Übergang von Kanada in die USA just an North Portal zwischen Estevan (CA) und Hartland (USA) wäre vorher per genauer Recherche festgelegt worden. So muss ein Buch beginnen, um Leser zu fesseln – aber es muss auch ausreichend Binnenstories haben, um die Aufmerksamkeit wach zu halten. Büscher hat das, soweit es bei der Unwägbarkeit der Abenteuer und Ereignisse möglich war, geschafft. Schließlich ist der Autor nicht nur ein erfahrener Journalist, sondern auch erfahren im Schreiben solcher Bücher. Ich hatte sein „Berlin-Moskau“ (2003) vor Jahren gelesen und war sehr angetan.

„Zu Fuß durch Amerika“ war ein Geschenk meiner Schwester, die es in Florida weilend las, als ich ihr Blog-Texte aus China schickte. Als wir beide wieder zurück in Deutschland waren, war es mein Willkommensgeschenk.

Ich habe das Buch gern und aufmerksam gelesen, wenn ich auch ein wenig müde wurde, je mehr es dem Ende zuging. Der Wanderer schien ebenso müde gewesen zu sein wie der Autor später bei der Niederschrift in der Villa Massimo in Rom.

Ich hatte von einem ‚zu Fuß durch Amerika’ eine andere Vorstellung als der Autor, eine sehr deutsche Vorstellung, nämlich einen Weg abseits der Autostraßen, einen Weg, der durch Landschaft, durch dörflichen und kleinstädtischen Lebensraum führt. Dass das nicht überall geht, weiß ich; in Italien beispielsweise gibt es abseits der Straßen keine Wege, die jemanden von einem Ort zum anderen bringt. Auch in China gibt es das kaum – so habe ich es im Blog eines Deutschen gelesen , der von Peking bis nach Hause laufen wollte. Auch er berichtete davon, wie auch Büscher, dass man nur entlang der Straßen laufen kann. Büscher hat gut recherchiert, auch wenn er das nicht deutlich macht, und er hatte die Erfahrung des Laufens entlang der Autostraßen schon auf dem Weg von Berlin nach Moskau gemacht.

Ich vermute, dieses Laufen on the edge, auf dem Strich, der Trennungslinie zwischen dem rasenden Herzschlag unserer Zeit und dem Suchen nach dem Raum für die Entschleunigung ist ein inneres Thema seiner Reise-Experimente und seines Schreibens. Viele Situationen und Erfahrungen seines ‚zu Fuß nach Moskau’ kehren in ‚zu Fuß durch Amerika’ wieder.

Wenn seine Bücher Erfahrungen vermitteln, dann wohl die, dass der Stumpfsinn des Laufens entlang der Asphaltbänder unserer Zivilisation(en) keine Erkenntnisfunken schlägt. Man braucht nicht sehr geübt im Laufen zu sein, um zu wissen, dass nach wenigen Tagen keine großen Gedanken mehr im Kopf kreisen.

Gut gefallen haben mir seine Schilderungen von Begegnungen mit Menschen; sie waren erfrischend, aber der Autor vermittelte das Gefühl, dass er nicht verweilen wollte, sondern nur weiter.

Vorbereitet und gut eingefädelt in den Ablauf der langen Reise und des Buches sind die historischen Rückblicke, das Erinnern an die, die vorher mal da waren, an  Don Coronado, den vergeblichen und verzweifelten Sucher nach El Dorado, an Ulysses Grant, den General und Präsidenten, dessen vom Sultan in Konstantinopel geschenkte Rassepferde den Anfang neuer Pferdegeschlechter machten und an den Prinzen zu Wied, der es bedauert hatte, dass die neuen Siedler die vormaligen Herren des Landes zu schmählich vergaßen. Hier wurde beim Lesen auf angenehme Weise deutlich, dass Wissen das Vergnügen steigert.

Dort wo ich meine zarte Bleistiftmarkierung angebracht habe, meinte ich zu spüren, dass der Autor es bedauerte, gerade hier nicht zu wissen, woher sein Behagen kam. Südlich von Dallas lag der Ort Waxahachie auf seinem Weg. „Nach Waxahachie gehen hieß den Süden betreten“, schreibt Büscher und nur wenige Zeilen später resonniert er: „Als ob die amerikanische Sprache mit ihrem großen Vorrat an einsilbigen Wörtern…sich auch einmal austoben müsse in verschwenderischer Vokalität – so flog ab und zu ein solcher meist indianischerstämmiger Name auf, ein solches Zauberwort.“ Ich habe vor etwa zwei Jahrzehnten von einem Amerikaaufenthalt ein Lexikon von „Place Names“ (George R. Steward) mitgebracht und dort wird ein Teil des Wortes den Muskogean oder Creek zugeschrieben und meint ein Rinnsal oder einen Wasserlauf. Waka hachi könnte dann Rindertränke heißen, aber vielleicht auch einen vielbenutzten Rinderpfad bedeuten.

Ein Buch für den Blick auf die Kleinigkeiten bei einem großen (Landes)Überblick.