Archiv der Kategorie: Künstler

Lebendige Vergangenheit – Cartoon Zeitgenossen

 

 

 

Ich lernte Olaf Rademacher als einen schattenhaften Partner und Begleiter von Heide Weidele kennen, deren immer wieder neu erfundene Kunstgewerke mich ansprachen – und mehr als das: mich faszinierten.

Olaf war immer mal da, aber meist abwesend als Person, aber anwesend als jemand, der in allen Gesprächen erwähnt wurde. Das liegt heute mehr als 30 Jahre zurück. Olaf war und ist Zeichner, Papierfledderer, der Zeitungen und Bücher gerne auf Stadtspaziergängen fand, eine Art Lebens-Clochard mit verschmitztem Lächeln und gerne explodierender Intellektualität. Und aus allen dieses Aspekten speist sich seine Liebenswürdigkeit.

Es gibt bei Olaf keine Titel, aber ich habe (zur privaten Identifikation) Schlagwörter hinzugefügt. Für diesen Cartoons steht: Entenwelt

1988 gab der Fischer-Verlag (Frankfurt) ein Taschenbuch mit Cartoons von Olaf Rademacher heraus, das neben 84 Abbildungen nur die nötigsten Daten zu seiner Person angibt: 1935 in Breslau geboren, nach dem Krieg ein paar Jahre in der CSSR gelebt, dann in West-Berlin nach einer Handwerkslehre die Meisterschule für Kunsthandwerk besucht. Erste Zeichnungen schon um 1950 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Als ich Heide Weidele kennen lerne, gab es auch Olaf immer wieder in ihrer Nähe, aber ein Zusammenhang fiel mir nicht auf. Als ich zu ihrer Trauung im Römer 1999 eingeladen wurde verwandelte sich die bisherige sanfte Fremdheit in eine warme Vertrautheit.

Ein paar Jahre zuvor, 1995, präsentierte ich Cartoons von Olaf Rademacher in Hannover, im zentralen Durchgang des Institutsgebäude des bib, einer Fachhochschule für Computerberufe.

gegen Kopfschmerzen

Von dieser Ausstellung fanden sich in A4 großen Briefumschlägen noch Belege, Fotokopien von Zeichnungen, die Olaf zur Auswahl geschickt hatte. Ich war es gewohnt, Originale zu präsentieren und nahm die Kopien lange Zeit auch als Originale. Nur bei sehr penibler Untersuchung der Striche, lassen sich Originale und Kopien auseinanderhalten. Olaf hatte wohl immer nur Kopien an seine Redaktionen geschickt; die Originale waren für den Verkauf an Sammler zurück gehalten, die dann den drei- bis vierfachen Preis des Abdrucks als Illustration erbrachten. Daten oder Titel trugen die Cartoons nicht. Das korrespondiert mit einer verblüffenden Abstraktheit der Figuren und Situationen auf den Cartoons.

Die Figuren sind einzeln und auch durchaus lebendig gezeichnet, aber sie sind gänzlich unindividuell. Sie sind Klone, ohne komplett identisch zu sein. Und alle sind sie, so scheint mir, irgendwie immer Olaf: deutlich und trotzdem schematisch bis vage, handelnd und (scheinbar) denkend, aktiv, aber deutlich nicht selbstbestimmt. Diese letzte Eigenschaft geht komplett an der Person Olaf vorbei. Er ist sehr selbstbestimmt in seinem Leben und Denken.

Stützen der Gesellschaft

enlightenment = Aufklärung

unter den Teppich kehren

Schnittmusterbogen

 

vor dem rettenden Ufer

Die Szenarien der Cartoons kenne ich nur für die Zeit der beiden Jahrzehnte vor und nach der Jahrtausendwende. Die Zeichnungen wurden nie datiert. Ich verstehe sie als eine fortlaufende Aktualität seines Lebens und des politischen Beobachtens.

Tagesaktualitäten treten in den Cartoons von Olaf Rademacher nicht auf. Deshalb sind Daten oder „Zeigefinger“ auf spezifische Ereignisse nicht notwendig. Es geht eigentlich immer um die grundsätzliche Befindlichkeit in unserer = der aktuellen Zeit.

Es gibt eine Reihe von Konstanten in den Cartoons von Olaf Rademacher: keine geschlossenen Räume (es gibt sehr seltene Ausnahmen), keine Physiognomien bei den Figuren, eine Zeitlang trugen die Köpfe alle runde Brillen, vorher oder nachher (beides unsicher) nicht, alle Gegenstände gehören einer traditionellen, alten, weitgehend vergangenen Welt an, auch Fernsehgeräte und Computer gehören dazu, ebenso Pflüge, Leitern, Stühle, Gasmasken, Besen. Es gibt ein sparsames Tierarsenal: gerne Enten, gelegentlich Fische oder auch mal ein Lama-ähnliches Tier.

Überraschend für mich – und dennoch sehr persönlich und „heimisch“ – empfand ich die zahlreichen Wasserszenerien, die mich immer an die biblische Sintflut erinnern. Allerdings auch an den Untergang der „Medusa“, an Kunstgeschichte und tatsächliche Schiffskatastrophen, die nicht nur von Géricault, sondern auch von Max Beckmann gemalt wurden.

 

 

Zu Umbo auf verwachsenen Pfaden

Umbo 1973. Foto Hans-Jürgen Tast

 

Erinnerungen sind trügerisch. Sie transportieren neben Fakten auch Wünsche und angeeignete Kenntnisse, zuweilen sogar nur Einbildungen.

Über Erinnerungen lässt sich also meistens trefflich streiten, selten aber die Wahrheit finden.

Hans-Jürgen Tast hat seine spannende, überraschende und immer kenntnisreiche Kulleraugen Serie „Visuelle Kommunikation“ im jüngsten Heft (Nr. 53) dem Fotografen „Umbo“ gewidmet. Das liegt nicht nur nahe wegen der überbordenden Welle von „!00 Jahre Bauhaus“ Publikationen, sondern auch wegen seiner eigenen Erinnerung an seinen Foto-Lehrer Umbo. Aber auf 54 Seiten finden sich nur sehr vereinzelt tatsächliche Umbo-Erinnerungs-Fakten. Eine davon steht schon auf dem Titelblatt: „Ich habe es gesehen. Ich habe es erlebt. Ich habe es festgehalten“. Ein Ausspruch, den Umbo vermutlich leitmotivisch immer mal wieder getan hat.

Umbo ergänzt die zwei wichtigen Fakten fürs Erinnern – Sehen und Erleben – durch den sehr wichtigen Zusatz „festgehalten“. Was Umbo mit der Kamera festgehalten hat, ist für uns immer noch sichtbar, aber erleben können wir es nur gefiltert durch vergleichbares eigenes Erleben und durch Anschauung, also unsere Interpretation.

Die im handlichen A5-Format gehaltenen Hefte vermitteln meist keinen durchlaufenden Text. Die Seiten sind durch Abschnitte und Trennzeichen gegliedert und zeigen, dass man ausschnittweise lesen kann und soll; dass man Fakten- und Gedankenbrocken bekommt, die man selbst zu einem größeren Zusammenhang fügt. Die Hefte sind Materialsammlungen und Vorschläge (oder nur Hinweise) für einen roten Verständigungsfaden.

Von Umbo sind nicht viele Abzüge und nur sehr weniger Negative aus der Nach-Bauhaus Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges erhalten geblieben. Einen Œuvre-Überblick konnte man nie herstellen und darunter litt natürlich sein Renommee. Das Erhaltene aus Umbos Leben ist bislang nicht häufig und intensiv genug gezeigt worden, damit seine „Stellung“ gesichert und selbstverständlich gewesen wäre.

Hans-Jürgen Tast hat für seinen Umbo-Beitrag viel Material zusammengetragen. Hätte er daraus einen durchlaufenden Text gemacht, hätte man an den Bausteinen feststellen können, wo Umbos tragende Säulen waren. Eine Analyse von Umbos Bildsprache wäre ein wunderbares Werkzeug zum Verständnis seiner Qualität gewesen. Ich habe eine solche Analyse vermisst.

Hans-Jürgen Tast hat viele erläuternde Belegstellen zur Zeit und Umbos Umwegen gesammelt: von der Wandervogel-Bewegung etwa, einschließlich dreier Notgeldscheine der Stadt  Kahla von 1921, die einen der Protagonisten dieser Bewegung, Friedrich Lamberti-Muck, verspotten. Toll, dass Tast diese Beispiele aufgestöbert hat (in seinem Archiv?), aber er hat sie nicht in seinen „Zettelkasten“ verständlich einsortiert.

Der „Kokos-Schnitzer“ Umbo wird erwähnt (S.23), aber man erfährt nichts von diesem ernsten (?) oder nur heiteren Handwerk. Auch die durch Brief-Zitat belegte Übernachtung von Holger Fidus (wer ist das?) beim Wandervogel Lamberti-Muck ist nicht selbstreferentiell. Was soll dieser Hinweis?

Ich hätte lieber Aussagen und Gedanken zu ästhetischen Aspekten von Umbos Fotografie, respektive seinem Lehren oder Erklären gelesen. Interessiert hätte mich auch die Frage, ob für die Studierenden in Hildesheim damals Umbos Ästhetik politisch war; oder was seine Nachkriegsfotos den Nachkriegsstudierenden sagten. Haben sie die überhaupt gekannt, zu Gesicht bekommen?

Die Kathedrale von Umbos Lebenswerk ist zu einem Steinbruch geworden, so wie viele Kirchen ohne Gemeindeleben es in den vergangenen Jahrhunderten auch wurden. Wie aus den Kirchen-Steinbrüchen werden auch aus Umbos Fotowelt neue Bildwelten entstehen.

Rückblicke – farbig, aufschlussreich, kommunikativ

Fast ein halbes Jahr blicke ich auf dieses Buch-Cover, wenn ich meine Augen über den Rand des Laptops hebe. Ein einfaches Bild, das mich jedes Mal in mein Innere schauen läßt. Die Künstlerin FRANEK, bei Wikipedia unter Sabine Franek-Koch zu finden, ist drei Jahre älter als ich. Sie feierte ihren 80. Geburtstag. Als ich sie Anfang März in Berlin besuchte, wirkte sie nicht nur frisch, sondern auch bemerkenswert jung. Ihre raum-reiche Berliner Altbauwohnung ist bestückt mit eigenen Bildern, Bücherwänden, Einnerungsstücken und Geschirren aus Großmutters Zeit. Die Gegenwart verwandelte sich bei ihr in eine zeitlose Vergangenheit. Wir sprachen auch beständig alternierend von Gegenwart und Vergangenheit, von Erinnerungen und neuen Projekten.

Bär schaut zurück“ ist der erste Band ihrer Kunst Biographie, umfasst die Jahre 1960-90. Ein weiterer Teil wird sicher noch folgen. Für ein paar Tage läuft noch eine Ausstellung zum Buch in Potsdam.

FRANEKs Buch zieht mich mit in Ihre Rückschau, weil es mir so deutlich vor Augen führt, wieviel Vergangenes lebendig bleibt (wenn auch jahrelang verborgen). Und wie weit Gegenwärtiges davon entfernt ist und sich selbstverständlich zeitlos anfühlt.

Das Buch ist für mich ein Zeugnis unseres Beisammen-gewesen-Seins, fokusiert im letzten Berliner Treffen und der Buchübergabe. Aus unseren immer vereinzelten Treffen und Gesprächen wurde ein Stück gemeinsamen Lebens. Ein erstes Blatt aus ihrer Produktion erhielt ich mit einer kleinen Sammlung „phantastischer“ Kunst (so hieß das damals), die ich von einem Architekten-Freund in Zürich erwarb.Wenige weitere Arbeiten kamen hinzu, aber FRANEKs Kunst war für mich immer eine „innerliche“, gleich: in mir lebende Kunst. Sie machte früh Reisen in andere, vermeindlich präzivilisatorische Kulturen, die ich nur durch Bücher oder Abbildungen in mich aufnahm. Sie lebte Eintauchen und Auseinandersetzen mit den Trägern dieser Kulturen. Sie fand durch ihren künstlerischen Ausdruck eine Balance aus Nähe, Verständnis, Bewunderung und Abstand. Alles was sie nach Hause zurück brachte, war durchtränkt von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen. Es waren Findungen und keine Erfindungen. Ich konnte sie beschreibend bemerkbar machen, aber nicht erklären.

FRANEKs Kunst ist selbst- und eigen-ständig. Mit ein paar Texten habe ich versucht, ihre Traumbilder mit indigenen Siglen den Betrachtern in den 1980er und 90er Jahren nahe zu bringen. Interessant ist aber vor allem, mit ihnen zu leben. Sie sammeln so sehr Zeit und Empfindungen in sich wie Gebete und Gedichte; sie bleiben immer präsent, immer jung, selbst wenn um sie herum das Erscheinungsbild der Welt sich ändert.

Ein Erinnerungsfoto aus der Zeitspanne des Katalogs: FRANEK, lks – selbst – Renate Anger, Berliner Künstlerin, gest. 2009.

In FRANEKs Bilderwelt herrschen Landschaft, naturhafte Erscheinngen und Tiere. Ich komme darauf nochmals in einem eigenen Text zurück.

Bär schaut zurück“ (ISBN 978-3-95476-274-3) ist erhältlich über international-books@edel.com

Auf der Suche nach dem verlorenen Triestiner Flair

Triest ist als Stadt für mich ein Solitär; nicht eingebunden in eine Landschaft, eher ein eigenständiges literarisches Geflecht. Theodor Däubler begleitete mich als massiger Körper vor römischen Säulen in einem Portrait von Otto Dix aus dem Jahr 1927 seit den Jahren meines frühen Erwachsenenlebens. Im alten Haus des Wallraff-Richartz Museums sass ich oft vor diesem Gemälde, das mich in eine mir damals unbekannte Welt führte. Abwartend, auf einem einfachen Stuhl in legerer Schräglage sitzend blickt Däubler ruhig aus dem Bild. Dix hat den 51-jährigen Schriftsteller in die Landschaft gestellt, aus der seine Versepen kamen, die einige Jahre zuvor noch als vorweggenommene Höhepunkte zeitgemäßer Literatur galten. Zum Zeitpunkt des Portraitierens wurde er fast nur noch von Freunden hoch geschätzt, zum Zeitpunkt meiner Entdeckung des Portraits galt er allgemein schon als unlesbar.

Ich habe Däublers Portrait im Geiste durch mein Leben getragen, ohne mehr als nur wenige Verse seiner Dichtungen gelesen zu haben. Jetzt wollte ich ihn in seiner Geburtststadt Triest finden. Geboren wurde er 1876 in Triest, in der von der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie so sehr begehrten Hafenstadt am nördlichsten Zipfel des Adriatischen Meeres, schräg gegenüber von Venedig und ein wenig nödlicher als Split, der Residenz Kaiser Dioclezians (die ich schon am Ende der Schulzeit besuchte).

Däubler war einer der unruhigen Geister des deutschen Kulturlebens zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, ein ewiger Wanderer, in einem Atemzug zu nennen mit Peter Hille und gern auch mit Else Lasker-Schüler. Däubler hat die lateinisch-mediterane Welt immer mit sich herumgetragen; er war überall und nirgend zu Hause. Auch in Hannover, meinem Wohnort seit einigen Jahrzehnten, hatte er seine Freunde, bei denen er als gern gesehener Gast einkehrte.

Statue Italo Svevo an der Piazza Hortis, am Ende des alten jüdischen Viertels

Für die meisten ist Triest aber eher die Stadt von James Joyce und Italo Svevo, die sich seit 1905 kannten und schätzten. Sie lasen gegenseitig ihre damals noch unveröffentlichten Werke. Italo Svevo (1861-1928), der italienische Schwabe/Deutsche, der ein Jahr nach Däubler starb, ist eine der sehr typischen Trieste-Figuren des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert: aus wohlhabender österreichischer und italienischer jüdischen Familie stammend, entsagte er dem Familienbusiness und lernte erst einmal ordentlich italienisch, bevor er mit dem Schreiben begann, denn von Hause aus sprach er neben deutsch nur seinen friaulanischen Dialekt.

Rainer Maria Rilke, ein weiterewchtiger Autor, der mit der Zeit und Triest verbunden ist, schrieb seine Duineser Elegien auf dem nördlich Triests gelegenen Schloß Duino.

Es mag weit hergeholt scheinen, wenn ich allen triestiner Autoren eine gewisse Melancholie und eine großzügige Weltumarmung mit mediteraner Intensität zuspreche, aber ich fühle es so als die Luft, die mich umgibt.

Palazzo Gopcevich am Canal Grande

Ich wollte eintauchen in die Atmosphäre dieser schreibenden Menschen, aber ich fand, was ich aus einem dicken Bildband kannte: protzige Fassaden und gleichgültige Touristen. In der Touristinformation erläuterte ein behäbiger und zurückhaltend freundlicher Mann für einen eintägigen Aufenthalt das mittelalterliche Quartier nicht weit von der zentralen Piazza dell‘ Unita D’Italiana und den Weg auf den Burgberg. Vom Mittelalter habe ich mit Glück ein kleines Fenster mit Steinumrahmung gesehen, ansonsten einkaufende Touristen.

Vielleicht ein Fenster zum Mittelalter

Der Weg auf den Burgberg war bei 29°C beschwerlich, aber nur mit drei Touristen besetzt.

Weg zum, Castello und zur Kathedrale S.Giusto

Mein Trieste-Flair ist immer noch ausschließlich innerlich, und da fühlt es sich auch wohl. Ich werde mit Genuß am Ende der Reise wieder in die Erzählungen und Verse der nur noch als Namen lebenden Triestiner Dichter eintauchen.

Draußen vor der Tür – eine Ausstellungseröffnung mit Wartenden

Einen Tag nach dem Vivaldi-Konzert Besuch wurde in der Casa Cavazzini, dem städtischen „Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst“ in Udine eine Ausstellung eines heimischen Künstlers eröffnet. Das großes Transparent an der Wand des zentral gelegenen Hauses zeigt eine schwungvoll skizzierte asiatische Tusche-Landschaft. Wir machten uns zeitig auf den Weg, doch bereits deutlich vor der Öffnungszeit waren die Türen verschlossen und es hatten sich Gruppen von Wartenden im Arkadenbereich gebildet. Gelegentlich wurde die Eingangstür geöffnet und eine einzelne Person oder einige wenige durften eintreten. Alle waren „gestandene“ Erwachsene, die mit ihrem deutlich sichtbaren Alter auch Gelassenheit verströmten. Man stand, redete und wartete. Wir warteten auch, vor allem, weil wir nicht wußten, warum die Türen zur Vernissage nicht geöffnet wurden. Eine Frau in der Mitte ihrer 70er Jahre eröffnete ein Gespräch mit uns, indem sie darauf verwies, dass mit den „wichtigen Leuten“ die Räume vermutlich schon gefüllt wären. „Auch der Bürgermeister steht noch draußen“, unterstrich sie die auch ihr unverständliche Situation und schob noch nach, dass sie die Künstlerwitwe Maria gut kenne, ohne deren intensives Engagement diese Ausstellung nicht zustande gekommen wäre.

Wartende vor der Zanussi Ausstellung zur angegebenen Eröffnungszeit

Sehr zögerlich entfernten sich die Wartenden von der Eingangstür. Auch wir verabschiedeten uns zu einem kleinen Stadtrundgang und kehrten erst eineinhalb Stunden später zurück. Die Türen waren frei und man ließ uns diesmal freundlich ein. Vier Räume im oberen Geschoß waren mit der Ausstellung bestückt, die weiteren Räume enthielten die städtische Sammlung und waren für den Eröffnungtag geschlossen, denn dafür hätte man Eintritt zahlen müssen.

Paolo Zanussi, der präsentierte Künstler (1936 – 1997) war studierter Jurist und autodidaktischer Künstler. Den kurzen biographischen Zeilen im Ausstellungsfaltblatt konnte man entnehmen, dass er in den 1970er bis 90er Jahren ausgiebig reiste. Zanussi malte locker farbige Landschaften und Stadtportraits, in die er gern karrikaturistisch fliehende Mädchen-Akte positionierte. Die überwiegende Zahl der Zeichnungen und kleinformatigen Malereien sind erzählerisch und unterhaltsam.

catch as catch can mit Doppeldecker, Udine 2993

Zanussi war kein zeitgenössischer Neuerer, er war jemand, der mit Farben und Strichen seine Zeitgenossen unterhalten wollte und die Welt in einem lebenswerten Licht erstrahlen ließ. Sehr wenige Zeichnungen nur deuten darauf hin, dass er auch ein kritischer Zeitgenosse war.

Presentile Autoritá, 1966

Seinen Lebensunterhalt hat er wohl kaum mit dieser Kunst verdient. Einnahmen und Erfolge kamen wohl überwiegend aus dem Werbebereich. Für Pirelli und Jägermeister zeichnete er und fast alle großen europäischen Zeitungen schmückten sich mit seinen Skizzen und Illustrationen.

Ein Stadtgespräch ist diese Ausstellung sicher, mittlerweile wohl ein eher abgehobenes, an dem sich alle Parteien beteiligen können.

Ein märchenhaftes Abendmahl, 1978

Totalkünstler – Ein Künstlerleben in Aphorismen

Timm Ulrichs signiert – 2010 im Sprengel Museum

 

Wenn ein Künstler, ein gestandener, wie man gerne sagt, um das Abwertende in den Hintergrund zu verbannen, mit ein wenig Trauer, aber ohne Schmerz sagt, dass er nur in der zweiten Liga spielt, dann zeugt das von einem großen und ehrlichen Selbstverständnis.

Der in Berlin geborene, in Hannover nach einem nicht weitergeführten Architekturstudium hängen gebliebene und aktuell sowohl in Hannover, als auch in Berlin und Münster lebende Künstler Timm Ulrichs hat diesen Satz schnörkellos in einem 89 minütigen Film mit dem Titel „Totalkünstler“ fast beiläufig ausgesprochen.

„Totalkünstler“ hatte am vergangenen Sonntag eine Doppel-Preview im Sprengel Museum in Hannover. Wegen übergroßen Andrangs musste der Film zweimal nacheinander gezeigt werden. Er wird im Herbst in die Kinos kommen.

Der Film ist ein Künstler-Portrait der eigenen Art, wie auch Timm Ulrichs ein Künstler der eigenen Art ist. Ein dichter und doch leichter Film, den man sich unbedingt ansehen sollte.

Der Film kommt ohne Interviews aus, ohne Kommentare aus dem off, ohne Spielfilm-Elemente und ohne eine erläuternde Handlung. Kamera und Ton begleiten Timm Ulrichs im Laufe von zwei Jahren einfach bei seinen Tätigkeiten.

Ulrichs ist kein Künstler, der malt oder bildhauert; sein „Handwerk“ ist sein Kopf. Er ist der denkende Künstler.

Kunst als Aufforderung, sich zu verhalten. Sprengel Museum 2010

Der Film begleitet den Künstler beim Zusammenstellen von Ausstellungsmaterial, beim Transport und bei der Installation in Ausstellungsräumen – unspektakulär. Aber Timm Ulrichs zeigt und erläutert, dass Kunst und Leben eine Einheit ist. Der Film schafft es, das auch verständlich werden zu lassen.

 

Timm Ulrichs ist der einzige Künstler, den ich persönlich kenne, dem seine „Väter“ bewusst waren und der sie nie versteckte. Er ist ein sehr bewusster Künstler, der den Stellenwert der Kunstgeschichte für sein Werk kennt und pflegt. Er war und ist damit ein Künstler, der Marcel Duchamp, Dada, konkretes Gestalten, Minimal Art und Concept Kunst verbindet.

Am Anfang steht die Duchamp’sche Attitüde, Jury freie Ausstellungen als das zu nehmen, was sie vorgeben zu sein, nämlich offen und nicht eingeschränkt. In Berlin stellte er sich 1965 selbst (in einem Glaskasten sitzend) als „Erstes lebendes Kunstwerk“ aus. Diese Radikalität macht ihn einerseits bekannt und andererseits katapultierte sie ihn aus der Ausstellung. Auch Duchamp nutze Jury freie Ausstellungen, um seine ersten Ready Made’s, ohne Kunstanspruch, einer an Kunst interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren (das Fahrrad-Rad und den Flaschentrockner). Und er wurde damit „vorbildhaft“ auch relegiert.

Die Wirklichkeit beim Wort genommen. Eine Manifestation 1975. Vom Autor erworben 1976.

Ich kenne Timm Ulrichs seit den späten 1970er Jahren; ich kenne ihn als einen fantasiereichen, innovativen Künstler ebenso wie als einen peniblen bis rechthaberischen Menschen (der meist am Ende tatsächlich Recht hat) und als einen schwierigen und sehr liebenswürdigen Zeitgenossen.

In einem ist Timm Ulrichs unbedingt vertrauenswürdig: in seiner Seriosität, der künstlerischen ebenso wie der menschlichen.

An drei Orten habe ich mit Timm Ulrichs zusammen gearbeitet – in Oslo (1991), in Dresden, in Berlin – und an einigen kleineren oder auch verschwiegenen Orten habe ich ihn in Ausstellungszusammenhängen erlebt: in Delmenhorst (1976, ganz zu Beginn unserer Bekanntschaft), in Bremen und in Neuenkirchen/Soltau 1977, in Recklinghausen und natürlich in Hannover und umzu.

Die Arbeiten von Timm Ulrichs kann man als „sperrig“ bezeichnen. Mich haben sie von Beginn an durch ihre klare „Denkaussage“ beeindruckt. Die Werke, die ich in meiner eigenen Umgebung von ihm habe oder als Bild-Erlebnisse im Kopf, sind auch nach langen Jahren des Mitlebens frisch. Nicht nur, weil sie selbstverständlich sind, sondern auch, weil sie ein (geistiges) Vertrauen ausströmen.

 

Timm Ulrichs ist auch der Künster-zum-Anfassen gewesen. Man konnte immer mit ihm reden, musste ihn aber in seiner oftmals starken Lakonie aushalten.

Er hat aus dem Verfertigen von Kunst nie ein Geheimnis gemacht – seine wunderbare Installation „Gedankenfluß und Bewusstseinsstrom“, ein Environment aus Treibholz-Strandgut und Quarzsand und Neon-Schrift baute er in Oslo in stiller Nachtarbeit im alten Rathaus mit Kinderschaufel und Pinsel wie ein photo-realistisches Gemälde auf. Bei Ausstellungen wurde er selten rechtzeitig fertig. Wenn vorne die Einführungsreden gehalten wurden, arbeitete der Künstler oft noch hinten am Aufbau (so in Recklinghausen).

 

Vermutlich hat keiner der Besucher der Preview gewusst, dass gewissermaßen in ihrem Rücken eine temporäre „Skulptur“ von Timm Ulrichs noch zu sehen war: zwischen Staatskanzlei und Wirtschaftstrakt des Landesmuseums steht eine Wotan-Skulptur, die in Richtung Staatskanzlei schaut – wenn es nicht gerade Winterzeit ist. Dann nämlich ist sie mit einem großen Tarnfarben-Turm „eingehaust“. Timm Ulrichs hat sich immer wieder mit dem Verbergen auseinander gesetzt und als bekanntestes Muster in unserer Zeit und Gesellschaft ist es das militärische Tarnfarbenmuster, gern auch in der Alltagskleidung. Timm Ulrichs hat der Wotan-Skulptur von 1888 eine Winter-Tarnung gegeben, die auf Grund der direkten Umgebung einen süffisant ironischen Unterton hat.

Timm Ulrichs Augen sind so offen wie sein Geist und sein Herz so klar wie seine Kunst.

Die Beschaffenheit des Augenblicks oder Verweile doch du bist so schön

Mit einem Ausflug in Frankfurts Museumsszene mit vorangekündigtem Treffen einer langjährigen Künstlerfreundin frischte ich die glaubensschweren Ostertage ein wenig auf. Sonnenschein und Wärme waren äußerst hilfsbereit.

An der ersten S-Bahn Station nach dem Hauptbahnhof in Richtig Stadt (Taunus-Anlage) erwartete mich Heide Weidele, seit den 1980er Jahren vertraute Freundin aus Künstlerkreisen. Die erste umfangreiche Ausstellung, zu der ich sie einlud, war „Die Beschaffenheit des Augenblicks“ im Roemer-Museum in Hildesheim 1987, dann folgten, nicht weniger umfangreich und vielfältig durch Künstlernamen und Stile die Ausstellungen „Bootschaften“ in Wilhelmshaven 1988. „open hav – meer offen“ in Oslo, Dresden, Berlin 1991-93 und nochmals Hildesheim 1993 zum Tausendjahr-Jubiläum des Bischofs Bernward. Kleinere Ausstellungen in Gifhorn etwa oder in Frankfurts Nähe sind da nicht mitgezählt.

Die Themen unseres Interesses überschnitten sich während dieser Jahre nicht nur im Sujet (Schiffe oder Boote), sondern auch beim plastischen Gestalten (Zerlegen, Zusammenfügen, Recyclen). Wir sahen uns häufig, tauschten uns aus und bewegten uns verbindend in verschiedenen Kreisen. Schiffe waren ein treffendes Symbol von Aufbruch, Zielsuche und Unstetigkeit während der letzten zwei Jahrzehnte das 20. Jahrhunderts. Nach der Jahrhundertwende konzentrierte sich Heide Weidele stärker auf die Verwandlung von Alltagsmaterialien, sie nahm die Kunststoffe mit in den künstlerischen Raum. Ich verlor den inneren Kontakt zu ihren Arbeiten, fand nicht mehr meine Motive und Symbole wie bei den aus Pappe und Holz gebauten „Bootschaften“. Die Zusammenarbeit zerbröselte wie das bei alten Kunststoffen vielfach der Fall ist. Dennoch habe ich mit längeren Pausen die Künstlerin weiterhin in ihrem atmosphärisch anheimelnden Seilerbahn-Atelier besucht.

Sonnenwagen einer möglichen Galaxis

Nun stand ein Ausstellungsbesuch in Frankfurt an mit den Arbeiten einer neuen Phase im Werk von Heide Weidele. Als wir einen Treffpunkt vereinbarten, schrieb sie klar: „Ohne KASACHSTAN geht nix.“ Der Besuch ihrer jüngsten Ausstellung stand somit am Beginn des Samstags. Es war ein guter und treffender Hinweis. Die Sonne lachte und die Wärme ließ uns bald aus der B1 Ebene der Station Taunus-Anlage ins bestens frequentierte Café im Grünen flanieren.

Wie verändern sich Werk- und Sehgewohnheiten, wenn Künstler*innen und Betrachter*innen mit einer gewissen Ferne älter werden? Die Jahre enger Zusammenarbeit in unserem Leben lagen ja nun schon etwa zwei Jahrzehnte zurück. – Ich fühle mich wieder näher an Heides Werk. Zum Material Alltagsplastik ist deutlicher als zuvor das Material Neon-Licht getreten. Geblieben ist der Aspekt von Collage und/oder Recycling. Heide Weidele nimmt immer noch die Alltagselemente der Zeitgenossen auf.

Kunststoff-Reste, Neonlicht, schwarze Tiefe und Raum, der sich ins Dunkel hüllt

Der junge, erst seit 2017 existierende „Kunstverein Ebene 1 Taunusanlage“ wagt ein Experiment mit einer etwas anderen Form der Kunst im öffentlichen Raum. Sie umrahmt in Virtrinen gebannt einen Durchgangsbereich, der vier Ein- und Ausgänge hat – eine Art „Durchgangs-Stern“. Am Oster-Samstag war er total verweist, ansonsten hetzen die Menschen über diesen Platz, den man nicht als Platz wahrnimmt. Hier will man nur durch zur nächsten Treppe, die ins Freie führt, vorbei an zu erwartenden Werbeversprechungen. Ein DB-Shop ist das einzige Alltagrelikt, das während des Tages sein Inneres (Monitor-Informationen) in alle umliegenden Glasscheiben wirft. Reflexion ohne Ende, was auch Heide Weidele nicht beim ersten Besuch vor Ort realisierte, aber sie baute die Irritation in ihr Spiel mit Licht, Raum und Material ein.

Olaf Rademacher, gleichfalls langjähriger Künstler-Freund und Partner von Heide Weidele fragte mich schon nach der ersten Volldrehung um die eigene Achse: „Was sagst Du, was siehst Du da.“

Ich zählte meine Bildassoziationen auf: einen der Schlitten von Beuys aus dem „Rudel / the pack“ (1970, Kassel) – dem sich ins Unterirdische drehende „Rueda de la Futura“ / Glücksrad von Gabriel Orozco, 2000 zur Expo in Hannover – einem auf die Erde gefallenen „Himmelswagen“ (ohne klare Zuordnung zu einem Werk) und zwei den frühen Schiffs-Formen anempfundenen Zeichen als Zitat von Heide Weideles eigenem Bild-Kanon.

Großer Schaufenster-Galeriebereich

Der Oster-Samstag entsprach dann fast symbolhaft der Leere und Unkenntnis dessen, was sich hinter KASACHSTAN verbergen mag.

Die Künstlerin wählte den Titel, weil auch sie keine „Füllung“ für das fremde Wort hatte, aber es als Titel stehen ließ, nachdem sie es dem größten Weltraumbahnhof der Welt in Baikonur und der darum sich ausbreitenden Steppe und Wüste zuordnen konnte. Leben im (N)irgendwo? – Das bleibt den vorbeihastenden Nicht-Betrachtern vorbehalten.

Zweiter Schaufenster-Galeriebereich

Mir ist diese Installation die Brücke von den frühen Collage/Recycling Arbeiten zu den plastik-besetzten; KASACHSTAN verbindet für mich beide Ufer. In der Gestaltung der glasverschlossenen Wandräume wird für mich der Reiz der abfahrenden und ankommenden Schiffe wieder greif- und sichtbar. Die „Leuchtfeuer“ kommen mit den Neonröhren neu hinzu und ersetzen in meinem „Bilder-Buch“ im Kopf die großen Karton-Vasen, die Heide Weidele Ende der 1980er Jahre entwickelte, als sie erfuhr, dass es mit Tschingtau, heute Qindao, einen deutsch-chinesischen Hafen gab. Ich habe ihn zwischenzeitlich zweimal besucht.

Ausstellungen sind nicht nur die Welt der Künstler, Ausstellungen sind auch die Welt der Betrachter. Beide haben ihre eigene Wahrheit. Mit Heide Weidele spazierte ich ein wenig in meiner Kasachstan-Wahrheit.

Anthony Canham – Ein stiller Freund hat sich still verabschiedet

Am 14. März 2019 schloß Anthony Canham (geb. 1941) ein letztes Mal seine Augen. Ich kannte ihn gut zwanzig Jahre lang. Aber das Wort „kennen“ ist nicht korrekt; ich kannte ihn wohl nicht, aber ich mochte ihn. Das brauchte seine Zeit.

Anthony war der, der auf mich zukam und sagte: „Sie kennen sich doch aus, auf der dünnen Linien zwischen Kunst und Design“ und die Frage nachschob, ob ich nicht einen Vortrag vor Design-Studierenden halten könnte. Er sah etwas in mir, was ich selber nicht gesehen hatte. Ich konnte es und durfte es danach 18 Jahre lang tun.

Mit dieser Einladung an mein Selbstverständnis begann eine stille Freundschaft. Wir haben uns nicht häufig getroffen, nicht viel miteinander gesprochen. Doch Anthony war immer für mich anwesend. Er kam mit Bild-Erfahrungen auf mich zu, wenn er von Reisen zurück kam und er lud mich zu Eröffnungsreden seiner Ausstellungen ein.

Anthony war ein Geber: er teilte, was er kannte, wußte und die Kunst, die er liebte. Er war immer privat und nur zu Hause in der Kunst.

Drei meiner Texte für Anthony habe ich nochmals gelesen und aus einigen Sätzen ein Bild vom Künstler und seiner Kunst entworfen, wie es sich für mich im Laufe der Jahre ergab. Meine Sätze aus dem neuen Jahrhundert escheinen mir nun als Epitaph:

 

2003

„Wann sieht man ein Kunstwerk richtig – wenn es im Atelier des Künstlers hängt oder nur an die Wand gelehnt ist in einem Ausstellungsraum, der hell und neutral ist, in einem bewohnten Zimmer, das mit dem Alltagsleben eines Menschen korrespondiert oder vielleicht sogar nur im mentalen Raum der Imagination?..

Ich habe die Gemälde von Anthony Canham in seinem leer geräumten Atelier gesehen, auf dem Boden stehend und an die Wand gelehnt – und ich habe dabei den Eindruck gewonnen, dass diese kleinen Arbeiten einen großen Raum um sich herum beanspruchen, weil sie einen großen Raum um sich herum bilden. Sie sind wie ein Mond, der einen Hof hat; sie ergießen sich in die Höhe und Breite, sie dehnen sich aus und zeigen die Qualität des Kleinmalens…

Anthony Canhams Bilder, die ich erst seit kurzem kenne, haben mich durch die Kraft ihrer einfachen Kompliziertheit beeindruckt. Überrascht war ich von den ungewöhnlichen Formaten und der Selbstverständlichkeit, mit der sie sich damit behaupten.

Beide Charakterisierungen würde ich dem „Leben für sich“ der Kunstwerke zuschreiben, aber eigentlich nur aus logischer Konsequenz, denn sie gefallen mir außerordentlich, aber in meine Lebensumgebung würden sie aller Wahrscheinlichkeit nicht passen. Sie brauchen viel freien Raum um sich und den kann ich ihnen nicht bieten…

„Eine schnelle Interpretation möchte ich nicht ermöglichen“, sagte Anthony Canham über seine Kunstwerke im Gespräch zu mir…

Einer der Zwänge, die sich der Maler Anthony Canham selbst auferlegt, ist das Ausgangsformat. Üblicherweise benutzt er Reststücke, die er im Baumarkt Container oder im Sperrmüll findet. Diese übrig gebliebenen Formate befragt er nach ihren Energien, nach dem Leben, dass die ungewollte Form zur Überraschung macht.

Was nach einer meist langwierigen Arbeit als Gemälde in ungewöhnlichem Format vor den Augen des Betrachters steht oder hängt, kann wie eine undurchdringliche Mauer wirken. Wenn Sie an die hundertjährige Abgeschiedenheit des Dornröschenschlosses denken, erahnen Sie, was ich meine. Und wie bei dem Dornröschen-Bild gibt es einen Zeitpunkt, an dem sich die Mauer öffnet und den Betrachter eintreten lässt. Geduld braucht man dafür. Diese Gemälde sind keine farbigen Illustrationen für die Wohnzimmerwand, es sind vielmehr Stolpersteine für den stumpfen Blick, mit dem man ja meistens durch die vertrauten Lebensräume geht…

Ich möchte den grüblerischen Ausgangspunkt von Anthony’s Clownerien in Alfred Jarrys „König Ubu“ sehen, denn auch seine „Geschichten“ sind frei von jeglicher Narration – sie entfalten sich, haben aber keinen Fortgang, der zu einem Ende gelangt…Von diesen Kunstwerken hat man lange etwas, weil sie sich nicht abnutzen durch ein eiliges oder voreiliges Verständnis.“

2011

Eine große Wand aus vielen kleinen Bildern und Rahmen habe ich „Erinnerungswand“ genannt. Die Arbeit heißt aber „The Sum of the Parts“. „Es ist die Summe der Teile“, so sagt es der Titel, aber das ist nicht eindeutig, denn so wie es sich präsentiert, ist es „eine Summe eines Teils der Teile“: Ich habe ein Foto des jungen Antony Canham gesehen, grau gestrichene Bilderrahmen, eingerahmte Zitate und mit ebenfalls grauer Farbe verschlossene Bildteile. Ich sah keine Zusammenhänge, aber ich war sicher, es gibt sie. Ich sah die Collage eines Lebens…

Am meisten verblüfft haben mich die kleinen Skulpturen-Modelle und die Boxen mit eingeschlossenen dreidimensionalen Objekten.

Sie rufen Erinnerungen wach, ohne jedoch auf irgendwen direkt oder unzweifelhaft zu verweisen. Es sind die Formen der Zeit, die er und ich und Sie irgendwie alle durchlebt haben. Es ist Zeitgenossenschaft, die sich hier zeigt, ohne aber eindeutig verortet zu sein…

Alles kommunizierte miteinander und alles stand doch ebenso klar für sich selbst.

Erst beim Niederschreiben fiel mir dann auf, dass diese Präsentation mich an die ruhige, unaufgeregte Weise erinnerte, mit der Anthony immer spricht. Ich möchte fast behaupten, dass seine Stimme und seine Wörter das gleiche Spiel von Zweidimensionalität und Dreidimensionalität durchmachen, das seine Kunst durchzieht. Er lässt immer beides anwesend sein, auch wenn man sehr wohl sieht, dass eines von beidem klar dominiert, die Zweidimensionalität oder die Dreidimensionalität…

Es ist eine Lebensgeschichte, die wie in Blindenschrift gedruckt erscheint – man kann alles anfassen, aber nur schwer entziffern und kaum je mit Sicherheit zuordnen. Es ist das Treibgut der Zeit, das faszinierende Gegenstände enthält, von denen man sich gefangen nehmen lässt. Es ist ein archäologisches Bild (s)einer Gegenwart. Man braucht viel Zeit, um diese Wand zu lesen – und als ob man alle Schreib- und Lesetechniken zusammen nehmen müsste, wissen wir nicht, ob wir von rechts oder links beginnen sollen oder ob es besser ist, von oben nach unten zu lesen. Jedes Entziffern ergibt einen anderen Zusammenhang – und es ist immer „unser“ Zusammenhang und nie der des Künstlers Anthony Canham…

Es ist gewiss ein Tagebuch – nach dem Gespräch mit Canham weiß ich, daß es ein Tagebuch ist, das aber selbst dem „Schreiber“, der eigentlich nur ein „Finder“ ist, nicht bewusst ist.

Die Ansammlung der Teile ist entstanden aus „Fundstücken“, die Canham haben anhalten lassen beim Schauen, beim Lesen, beim Suchen. Er hat sie verwahrt und immer dann, wenn er kein zielgerichtetes Tun hatte, wieder zur Hand genommen, mit grauer Farbe bestrichen oder gerahmt. Sie kamen aus einer Kiste und sie wanderten wieder in eine Kiste – und daraus wurden sie nun für diese Ausstellung befreit und kehren dahin wieder zurück, wenn nicht jemand die Entdeckerlust hat und diese „Lebensereigniswand“ für sich kauft. Preis auf Anfrage, steht auf dem handgeschriebenen Schildchen…

In gut 25 Jahren haben sich viele remains und Fundstücke angesammelt, die auch von Anthony Canham nicht mehr einem eindeutigen Zusammenhang zugeordnet werden können und für die Dinge, die nie eine ablesbare Bedeutung hatten, gibt es auch jetzt keine Erklärung. Aber es gibt zwischen allen Texten, Dingen, verschlossenen Objekten atmosphärische Verbindungen – good and bad vibrations. Ob das ein Überbleibsel von Woodstock ist – wer weiß?..

Ich liebe diese Wand, vielleicht weil sie das schönste Tagebuch ist, das man je schreiben kann, ein assoziatives, unbewusstes, doch zutiefst individuelles, das zugleich die Facetten der Zeit mit einbezieht (und sie auch visuell bloßlegt).

Für mich ist diese Ausstellung ein heiteres, ungemein sympathisches Lebensbild des Künstlers Anthony Canham, selbst wenn er „The Sum of the Parts“ als zutiefst melancholisch bezeichnet. Ich sehe und fühle den Menschen und Künstler, aber jedes Beschreiben bleibt vage – und offen für Ihre eigene Entdeckung.“

2015

„Irritierend könnte sein, dass Anthony Canham – er formulierte es in unserem Gespräch – bei seiner künstlerischen Arbeit „einfach anfängt“. Es gibt in seinem Prozess kein Vor-Bild.

Die Titel entstehen erst im Nachhinein – haben dann allerdings sicher etwas mit seinen Gefühlen zu tun, also mit Erinnerungen, Wünschen oder biographischen Momenten.

Nach ein paar fast beiläufigen Fragen und Antworten vor dem Verlassen des Raumes hier, sassen wir noch bei einem Kaffee zusammen und das Gespräch sprang in alle Richtungen. Dabei erzählte er von einem Besuch im Frankfurter Städel und der Faszination eines Gemäldes in der Alten Abteilung. Er sagte mir den Namen des Künstlers, der mir leider nicht bekannt war. Ich habe den Ausdruck der Faszination von Anthony Canham mit nach Hause genommen und dann Google bemüht.

Es war das Gemälde „Interieur mit Maler, lesender Dame und kehrender Magd“, dass zwischen 1665 und 70 entstand, gemalt von dem Holländer Pieter Janssens Elinga (1623-82). Es ist ein grandioses Gemälde aus Licht und Raum – und aus erzählenden Figuren.“

 

Dieses helle, offene altmeisterliche kleine Gemälde ist mir sein Vermächtnis.

 

Umbo – eine exemplarische Bauhaus-Biographie? – Ein Kolloquium

Unter diesem ambitionierten Titel veranstaltete das Sprengel Museum Hannover ein Kolloquium zum Einstieg in das Wissen, die Fragen und die noch nicht gefundenen Antworten zu Leben und Werk des Fotografen Umbo (= Otto Maximilian Umbehr, 1902 – 1980).

Umbo in der Kestner Gesellschaft 1979. Foto: Peter Gauditz

Elf Referent*innen und vier Moderato*innen bemühten sich, in netto 5 Stunden die Jahre von Umbo’s Leben und Wirken einem Publikum von etwa einem halben Hundert interessierten Zuhörenden zu erläutern.

In vier Blöcken wurden Themen und Fragen zum Bauhaus und den 1920er, 30er und den Nachkriegsjahren angerissen und behandelt. Vorgesehen waren jeweils zehn Minuten Erörterung/ Vortrag und anschließend ein gemeinsames Gespräch unter Einbeziehung von Publikumsfragen und -meinungen. Die Referierenden waren ausschließlich wissenschaftlich ausgebildet und auch entsprechend tätig. Sie schöpften somit aus einem Wissensschatz, der dem Großteil der Anwesenden im Publikum wohl kaum zur Verfügung stand. Das verlangte dem Publikum ein sehr hohes Maß an Konzentration ab. – Meine Notizen sind demgemäß Bruchstücke oder waren vielfach vergebliche Versuche einen Gedanken, einen Satz festzuhalten, ohne den nächsten Gedanken zu verlieren.

Rolf Sachsse (emeritierter Prof. für Designgeschichte und Designtheorie) versuchte, den Denk-Raum dadurch zu öffnen, dass er die Situation von Studierenden (im Bauhaus wie an heutigen Universitäten) als Feld von Unsicherheiten und Verunsicherungen charakterisierte: „Ich kenne das Gefühl, wenn viele Leute kommen, die nicht wissen, was auf sie zukommt, und von Leuten, die kommen und nicht wissen, was sie wollen.“ So sah er die Situation von Umbo, als der in Weimar 1921 den Bauhaus-Vorkurs besuchte. Den Grundkurs verstand Sachsse, aber vermutlich auch Umbo und die anderen Bauhäusler als einen Raum, in dem jeder sich selber suchte. Es war ein Kräfte zehrendes Suchen ohne rasches Finden von Ergebnissen.

Sachsse stellte Umbo’s Relegation vom Bauhaus 1923, noch vor dem Ende des Vorkurses in den Kontext der politischen Situation: in den regionalen Zeitungen wurde das Bauhaus, das dem Publikum noch nicht gezeigt hatte, was es wollte und konnte, in Leserbriefen politisch übel beschimpft. Die noch nicht ausgefeilte rechte Ideologie kann man heute nachvollziehen, wenn man sich Trumpsche Tweeds und Reden ansieht. Sachsse hat diesen Vergleich nicht formuliert, aber er hat angedeutet, dass die Relegation Umbo’s (z.T. wegen ständiger Verspätungen, über die sich sein Lehrer Johannes Itten beschwerte) ein Opfer zur Beruhigung der öffentlichen Meinung gewesen sein könnte.

In den Meisterprotokollen steht zum Fall Umbehr (Sitzung 11. 12. 1922): „Um aber nicht einen Fall zu schaffen, der aussieht wie der Ausschluss aus der Schule (mit Rücksicht auf die heut übliche Formel einer solchen Tatsache für sein späteres Fortkommen), soll eine besondere Formel angewandt werden. Es wird beschlossen, dem Umbehr mitzuteilen, dass wegen seiner Interessenlosigkeit seine „Streichung aus der Schülerliste“ vorgenommen wird.“

Angelika Lammert (Akademie der Bildenden Künste und Humboldt-Universität in Berlin) beschreibt den Unterricht von Itten als eine Übertragung der Rhythmisierung von Körperbewegungen, die er aus Bildern alter Meister in die Gegenwart übertrug. Es war ein neuer Zugang zum Körper, der möglicherweise auch durch den Augenschein kriegszerstörter Körper (Krüppel und Versehrte) im alltäglichen Umfeld unterstrichen oder sogar radikalisiert wurde. Die „Kriegskrüppel“ in der Kunst dieser Jahre und im alltäglichen Straßenbild, was uns heute weniger präsent ist, sind dafür ein deutlicher Hinweis.

Wenn nach der „Starre“ des ersten Graben-Krieges in der Geschichte in den Illustrierten gerne Gymnastik treibende junge Frauen abgebildet wurden, hat das sicher auch damit zu tun, dass man für die Gesellschaft und für die Nation (?) einen Frühling beschwören wollte, einen positiven Impuls, dass das Leben weitergeht.

Die „neue Frau“ war ein medialer und künstlerischer Fokus während der 1920er Jahre. Frauen wurden in den Medien als jung, attraktiv, selbstbewusst und zielstrebig dargestellt und vorgeführt. Das „Mondäne“ war dabei so etwas wie das Sahnehäubchen, das immer auch versprechen sollte, dass man dazu nicht unbedingt reich sein musste.

Umbo fotografierte eine Zeitlang intensiv Ruth Landshoff als nüchternes Gesicht, obwohl sie als Nichte des Verlegers Samuel Fischer aus einem begüterten und exponierten Haus kam und dann noch durch Heirat zur Gräfin York wurde. Die Zeitschriftenleser wussten aber, dass sie eines der „It-girls“ ihrer Zeit war. Das Mondäne war damals vermutlich der stellvertretene Versuch, sich vom allgemeinen Alltag abzuheben.

In solchen „Gegensatz-Fotos“ wurde, so ein deutlicher Tenor der Beiträge, Umbo zum „Bauhaus-Fotografen“.

Daneben, das ist in der Ausstellung im Sprengel Museum zu sehen, abstrahierte Umbo parallel dazu das Frauenbild bis zu unbekleideten Schaufensterpuppen (so Katarina Sykora, Prof. in Bonn und Braunschweig). Sie formulierte: Das Ideal der neuen Frau war ein offenes Experimentierfeld – mit dem Hinweis „Auch der neue Mann ist ein gemachter [ = gebauter] Mann“.

Dieser Einblick ist nur ein Ausschnitt aus dem Kolloquium; er gibt ein paar Anregungen.

Hilfreich zum Verständnis ist unbedingt der Katalog, ein 335 Seiten dickes Buch (€ 48,-), das mit Fotos- und Seitenabbildungen einen sehr guten Einstieg in die unterschiedlichen Phasen von Umbo’s Œuvre gibt, bevor es dann informative Texte enthält.

p.s. Ich habe mich bemüht, die mir sympathische Aufforderung der Stadt Hannover, Sprache möglichst geschlechtsneutral zu benutzen, in diesem Text bewusst umzusetzen. Es ist schwierig. Man muss dazu Sätze anders mit Wörtern besetzen und grammatikalisch strukturieren. Neben den Schwierigkeiten ist es ein Gewinn, dadurch Einblick in die historische Beschaffenheit unserer Sprache zu erhalten. Gesellschaftliche Rollenfixierungen werden dabei sehr rasch deutlich, ebenso aber auch die Tatsache, dass wir noch kaum Wege in eine gleichberechtigende Darstellung kennen.

Atlantis ist wieder aufgetaucht. Umbo. Fotograf

Das Sprengel Museum Hannover geht mit einer umfangreichen, fulminanten Foto-Ausstellung in das Jubiläumsjahr des Bauhauses. Es zeigt „Umbo.Fotograf“. Eine großartige, auch schwierige Ausstellung über einen „versunkenen“ Künstler, der im Bauhaus Weimar 1921 – 23 begann und 1945 im zerstörten Hannover strandete. Dazwischen lag ein unstetes und doch erfolgreiches Leben als Fotograf, von dem nach dem durch Bomben zerstörten Wohnhaus und Atelier in Berlin kaum etwas übrig blieb.

Bis zu seinem Tod 1980 lebte Umbo in Hannover – und wer nach 1960 geboren wurde und einige Jahre in Hannover lebte oder immer noch lebt, der konnte Umbo an der Kasse der Kestner-Gesellschaft in der Warmbüchenstrasse als freundlichen Cicerone aktueller Kunst erleben.

Umbo in der Kestner Gesellschaft 1979. Foto: Peter Gauditz

Fotos von Umbo waren ein rarer Schatz, sein Archiv in Berlin war ja verloren gegangen.

Ich habe ihn auch noch am Eingang der Kestner Gesellschaft erlebt, aber ohne irgend ein Wissen um seine Profession oder gar um seinen guten Ruf als Fotograf in den Jahren der Weimarer Republik.

Als ich in der gerade eröffneten Retrospektive ein Foto sah, das ihn in der Kestner Gesellschaft zeigt, erinnerte ich mich an Figur und Gesicht dieses ansonsten fast geisthaften oder ätherischen Künstlers und ganz in der Nähe liegt auch ein Foto mit Umbo zwischen jungen Fotostudierenden und da hätte ich gut einer von den Abgebildeten sein können.

Umbo und Studierende

Etwa 600 Fotos sind von Umbo’s Lebenswerk übrig geblieben; in einem fast zehn Jahre (oder sogar mehr) dauernden Verhandlungsmarathon ist dieses Rest-Werk von seiner Tochter; einem Sammler und einem Galeristen erworben worden und wird in der Berlinischen Galerie, dem Dessauer Bauhausmuseum und dem Sprengel Museum nun beheimatet sein.

Von dem für einen Fotografen überschaubaren Œuvre von nur 600 Arbeiten sind in der Ausstellung des Sprengel Museums 200 in kleinen Rahmen in der großen Ausstellungshalle an Wänden und in Vitrinen präsentiert: eine Ausstellung, die den Betrachter zur Nah-Sicht zwingt.

Umbo wird hier wieder zu einer greifbaren Figur; entfernt sich von dem Phantom, das phantasievolle Ketten um den Hals trug, wie man sie heute fast nur den dunkel gekleideten Gothics zutraut.

Bei der Pressekonferenz standen die Umstände der Zusammenführung dieser Sammlung, die Biographie und die Lebensumstände eines genial-dilettantischen Experimentierers im Vordergrund.

An Umbos Fotos hatte ich nur eine blasse, verschwommene Erinnerung. Ich hatte ja auch nur sehr wenige zuvor sehen können. In der Ausstellung sah ich die Fotos noch ohne Beschriftungen, wurde also nicht abgelenkt von Jahreszahlen oder Zusammenhängen. Bestechend erscheinen mir seine frühen Kopf- /Portrait-Fotos. Sie gehören zu seiner „Findungsphase“ als Fotograf, bald nach seiner Relegation vom Bauhaus (1923). Umbo hat die Gesichter der Portraitierten fragmentiert; er gestaltete ein pars-pro-toto Spiel. Als Betrachter bekam ich ein Gefühl für die Person, die im Foto eigentlich nicht erscheint. – Im umfangreichen Katalog fand ich später eine Illustrierten-Seite aus dem Jahr 1927 mit vier dieser Fotos unter der Überschrift „Photografiere in Raten“. Und es gab einen erläuternden Text von Umbo, der seinen Kunst-Griff ein wenig karikierend, ein wenig neckisch als Camouflage fehlender Schönheit anpreist. Ob es ein autentischer Umbo-Text ist, lässt sich ebenso stark bezweifeln wie dem Fotografen freudig zuschreiben.

Umbo brachte seine Fotos immer wieder in ein Schweben zwischen entlarvender Ehrlichkeit und spielerischer Maskerade. Ich kann mir vorstellen, dass er damit auch eigene Unsicherheiten zu verdecken suchte.

Mir kommen japanische No-Schauspieler in den Sinn, wenn ich diese Fotos sehe und auch die Schaupieler-Portraits der Meiji-Periode. Dass Umbo ein wenig später eine treffende Reportage zum berühmten Clown Grock machte, ist (inhaltlich) nicht weit entfernt davon.

Als weitere herausstechende Stile (oder Perioden) empfinde ich die Magazin-Fotos der 1930er Jahre und dann auch wieder der 1950er Jahre. In den 1930ern versinkt die Individualität des Fotografen oftmals im dynamischen Layout, mit dem das Gefühl der Schnelllebigkeit dieser Jahre auszudrücken versucht wurde.

Reportage „Sportomnibus“ in „Der Stern“ 30.1939

In den 1950er Jahren hat Umbo Reportagefotografien über das deutsche Nachkriegsleben (für seinen nun in London lebenden Berliner Freund Simon Guttmann) erarbeitet, erschienen in der englischen „Picture Post“, die für ihn schon vorher ein Fenster zur Internationalität der Fotosprache gewesen war.

Die Fotografie Umbo’s in den 1930er und auch in den 1950er Jahren ist vor allem eine Zeitschriften-Fotografie. Da es nur zwei Kontaktabzüge (von insgesamt vier?) in der Ausstellung gibt, lässt sich für Betrachter wie Forscher nicht eruieren, wie sich Layout und Fotografen Intention unterscheiden. Wie selbstherrlich noch in den Illustrierten trächtigen Nachkriegsjahren die Redaktionen mit dem Bild- und Wissensmaterial der Fotografen umgingen, hat Robert Lebeck in seinen Erinnerungen (1999 und 2004) mehr als nur angemerkt – und es war in der Wolfsburger Ausstellung „1968“ bestens erkennbar (2018).

Typologie der Nachkriegszeit. Hatte sich Umbo vorher mehr auf in sich geschlossene Bildräume konzentriert, kombiniert er hier den Einzelnen innerhalb seiner Mitmenschen.

Umbo’s Fotovorlagen sind für mich sowohl in den 1930er als auch in den 1950/60er Jahren präzise und variabel – und an den unterschiedlichen, jeweils sehr zeitbedingten, Layouts lässt sich die hohe Qualität der Fotografen-Arbeit ablesen.

Umbo wurde vor und nach dem Zweiten Weltkrieg für seine Fotografie gelobt, aber Entdecken und Entschlüsseln ist die Aufgabe für alle Betrachtenden. Betroffenheit ist dann vielleicht der erste Schritt zum Verständnis.

Ja. Was nützt es einem, berühmt zu sein, wenn es kein Mensche weiß“, schreibt Umbo an die Neue Zeitung in Frankfurt 1952, „Nun wissen es einige.“

Umbo = Otto Maximilian Umbehr, geboren am 18. Februar 1902 in Düsseldorf, verstorben am 13. Mai 1980 in Hannover.

Die Ausstellung im Sprengel Museum geht bis zum 12. Mai 2019