Think Big – Vom Unbekannten bis zum Veitstanz

1.09.2013

TANZtheater International Festival in Hannover

Am ersten Festival-Abend gab es A Capella Gesang im weitläufigen Raum der Orangerie, am zweiten Abend energisch volltönende Musik aus großen Bassboxen in dem (empfunden) deutlich kleineren Theaterraum der Musikhochschule. Der weite, offene Raum der Orangerie war für den A Cappela Sound mit seinen Assoziationen nahezu ideal.

Gestern donnerte mich die Musik zur ersten Choreographie in die späten 1960er Jahre zurück. Da wurden mir im Schauspielhaus Zürich von der Kölner Rock-Band „Can“ in ähnlicher Weise die Bässe in den Körper geschleudert. Musik pur ist aber anders als Musik als Teil einer Choreographie. Bei „Chorus“ in der Orangerie war die Musik ein Teil der Choreographie, in der Musikhochschule war die Musik der Schrittmacher; sie kam vor der Bewegung zum Publikum. Ich bin nicht sicher, ob sie die Zuschauer öffnete, durch Töne gewissermaßen erweiterte, aber ich halte es nicht für abwegig.

Unknowing, Eingangssequenz. Foto: Ralf Mohr

Die erste Choreographie „Unknowing“ war von wilder, dunkler Musik geprägt und ebenso von wilden Bewegungen. Vieles davon blieb im Dunklen, nicht nur was das Bühnenlicht anging, sondern auch von seiner Lesbarkeit her. In rasender Geschwindigkeit wechselten die Bilder, die sich durch die Bewegungen von fünf Tänzerinnen und vier Tänzern ergaben. Zu Beginn erinnerten schlagende Basstöne mit Nachhall und eckige, eingefrorene Bewegungen an Fritz Lang und „Metropolis“. Die Tänzer (nur wenige Unterscheidungen zwischen männlich und weiblich) zeigten sich als Hosenmenschen.

Die Choreographie von Matthias Kass erschien mir, vom Ende des Abend her gesehen, wie ein Auftakt zu einer Trilogie aktuelle Zeitempfindung. Dabei haben alle drei Choreographen zwar mit dem selben Ensemble gearbeitet, aber nicht willentlich aufeinander Bezug genommen (zumindest ist davon in keiner Presseunterlage die Rede gewesen).

Der Abend präsentierte das Arbeitsergebnis des zweiten „Think Big“ Künstlerresisdenz-Programm vom Ballett der Staatsoper und von TANZtheater International. Es lädt pro Jahr drei von einer Jury ausgewählte junge Choreographen/innen ein, mit einem gemeinsam gecasteten Ensemble größere Choreographien zu erarbeiten. An diesen Erfahrungen mangelt es jungen Choreographen vielfach.

Auffallend an allen drei Choreographien war das Fehlen von langen Laufwegen – verständlich, denn dazu ist die Bühne in der Musikhochschule zu klein. Weil das Auseinanderziehen von kleinen Gruppen eingeschränkt war, ergaben sich in allen Stücken flächige Grundpositionen für die Tänzer. Man sah immer wieder ein Rechteck sich füllen, sich verdichten und sich ent-leeren.

A_Notion_of_the_Tide

A Notion of Tides, Foto: Ralf MOhr

Was zum Ende der ersten Choreographie wie ein Verschlungensein in Wirbeln und Knäuelen erschien, beruhigte sich in der nächsten Choreographie „A Notion of the Tides“ des in Stockholm lebenden Japaners Shumpei Nemoto und zum Schluß in  „El Baile de San Vito“ der Kubanerin Maura Morales. In den drei Stücken schälten sich immer wieder Kleinstgruppen (zwei-drei Figuren) heraus, dann wieder eine größere Überzahlgruppe und dann wieder eine lockere geometrische Figur aus Solisten. Und immer wieder waren die pas de deux ein Umwerben, die pas de troi ein Kampf und die Gruppensituationen das Spiegelbild von Masse und Einzelgängern. Der Japaner Shumpei Nemoto kreierte zwei wunderbare pas de deux, einen kräftig, einen zart.

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Il Baile de San Vito (dt. Veitstanz), Foto: Ralf Mohr

Die Kubanerin Maura Morales (lebt in Düsseldorf) legte ihrem Gruppenspiel als Blaupause den Veitstanz zugrunde. Das unwillendliche Zucken, das sich zu wilden Tänzen ausweiten kann, grassierte immer wieder in Europa seit dem späten Mittelalter. Bis heute ist keine medizinische, keine soziale und keine gesellschaftliche Wurzel dafür als sicher verbürgt. Morales spielt mit allen diesen Aspekten wie Peter Weiss einst mit den Figuren Mara/Sade (1964). Sie beginnt mit einem Schau-Spieler, gekleidet wie in einer Heilanstalt und es endet mit einem durchgeknallten Haufen in allerlei weißen Bekleidungsstücken der Rüschenhemden-Zeit. Die Bewegung ist in ihrer Choreographie etwas, das durch den Körper geht. Der Geist ist nur ein Koordinator, scheitert aber zuweilen an den sich umeinander drehenden Händen über dem Schoß erschöpfter Tänzer. Ein Bild der Irritation und der Meditation. Und doch hat die Raserei kein Ende. – Der Abend hatte eines mit langem, sich steigerndem Applaus.

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