Am Samstag verließen wir gegen Mittag Reggio und erreichten Cosenza gegen 15.00 Uhr. Nach dem Hotel Check-in blieb Zeit für einen ersten Bummeln durch die Neustadt. Cosenza hat, wie Taranto auch, eine eigenständige Alt- und Neustadt.

Denkmal für den grande guerra
In Italien kommt man in keiner Stadt um das Gedenken an den „Grossen Krieg“, wie der 1. Weltkrieg genannt wird, herum; es ist die öffentliche Erinnerung an ein durch letzte Gebietszusprechungen (Titol) der Siegermächte endlich entstandenes Italien. Denkmäler zum 2.Weltkrieg findet man weitaus seltener – und bei denen ist das Pathos der eigenen Größe auch deutlich moderater.
Die italienische Politik hat auf das nationale Pathos seit dem risorgimento, dem „nationalen“ Zusammenschluß der vielen Adelsrepubliken und der Eroberung päpstlicher und habsburgischer Gebiete unter einem neu ernannten König, bis heute nicht verzichtet. Aktuell steht Italien damit ja leider nicht mehr allein.
Die Denkmäler sind natürlich auch ein bevorzugter Platz – weil es ja fast immer ein Platz ist – für die Treffen der Männer.

Männerunde im Schatten des grande Guerra Denkmals
Unser Weg führte in die Neustadt; zur Altstadt kommt man sowieso nur über den südlichen Rand der Neustadt. Der erste Augenschein führte uns zurück nach Reggio: die Straßenränder und Gewege, die in italienischen Städten gern nicht strikt getrennt werden, lagen voller Unrat, der aus zerplatzten Müllsäcken stammte. Kein einladender Anblick, obwohl sich auf der anderen Straßenseite ein Krankenhaus befand. Ich schaue meist eher nach oben als vor meine Füße und erblickte ein vergehendes Jugendstilgebäude. Fast jede italienische Stadt hat irgendwo eines oder zwei dieser modernen Häuser aus der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In Italien heißt unser „Jugendstil“ Stile Liberty. Danach beherrschte aber der wuchtige Palazzo-Baustil des späten 19. Jahrhunderts die Straßenränder. Er läßt viele Städte gleichförmig erscheinen. Das gilt vor allem für die jeweils eine Prachtstraße, die in Cosenza Corso Mazzini heißt. Giuseppe Mazzini, dem Norditaliener, erhielt ausgerechnet in Kalabrien die Ehre, dem Corso seinen Namen zu geben, ein für das beginnende 19. Jahrhundert nicht untypischen Lebensweg vom Philosophen zum Republikaner, der überall aneckte und sein Lebens fast ausschließlich im europäischen Exil fristet. Er gehörte zu den Denkern, die in Europa monarchisch unabhängige Staaten forderte, vorgeblich Nationalstaaten und dabei vergass, wie heterogen gerade Italien bezogen auf die Herkunft ihrer Bewohner war.

der Beginn der passeggiata
Wir bogen in den Corso ein und wurden schon von der beginnenden passeggiata mitgerissen. Noch sahen wir vor allem die Rücken der Menschen, die in die breite autobefreite Straße gingen. Schnell wurde es „dicht“ um uns; es bildeten sich kleine und vielfach auch ausladende Gruppen, die sich gerne wieder auflösten. Es war unsere dritte Wochenend-Passeggiata; dieses Straßentreffen, so wurde uns immer wieder gesagt, findet jeden Abend statt, aber wir haben es ausschließlich an Wochenende aufgesucht und genossen. Wenn man nicht in der Stadt lebt oder mit ihr durch Familie und Freunde verbunden ist, dann wird man bei Passeggiata zum Treibgut: man reibt sich auf mit dem Schauen und Beobachten.

dafür ist die passeggiata da
Die Dunkelheit fiel rascher ein als in Fogga und Reggio (so kam es mir vor); Fotos der Passeggiata gelangen kaum. An einer Touristen-Info ließen wir uns von einer begeisterten und begeisternden Frau die highlights der Stradt an Hand eines gezeichneten Stadtplans erläutern. Der Geräuschpegel war so enorm, dass wirklich nur ausgewählte Wörter an unser Ohr drangen; wir hielten durch und erhielten als Dank nicht nur immer wieder das Lächeln der von ihrer Stadt begeisterten Frau, sondern auch noch ein wenig von den in Schubladen gehüteten Broschüren. Beschwingt konnten wir uns dann aus der noch immer wogenden Menschenmenge entfernen.

Man(n) sitzt sich ein
Sonntag – Museumstag
Den Sonntag hatten wir für Museumsbesuche vorgesehen und begannen mit der Galleria Nazionale di Cosenza im Palazzo Arnone., die ein wenig abseits lag und trotz verschiedener Stadtpläne nicht leicht zu finden war. Das große Gebäude war wie verwaist und nach einem irritierenen Suchen im Innenhof fanden wir eine offene Tür. Eine Frau nahm uns gleich verbal „an die Hand“ und führte uns, weil wir die hauseigene Boccioni Sammlung sehen wollten, in den oberen Stock. Wir waren die einzigen Interessenten. Unsere Kustodin parlierte mit einem Kollegen so lange, wie wir uns Boccioni widmeten, dessen Zeichnungen sehr schön zeigen, dass die futuristischen Gedanken bei ihm vermutlich ein langsam angegangener Bruch mit der Kunst des 19.Jahrhunderts waren.

eine kleine Skizze von 1908, betitelt als „kniende allegorische Figur“
Da Hannover zwei wesentliche Werke von Boccioni besitzt (vermutlich aus der Futuristen-Ausstellung in Herward Waldens „Sturm“-Galerie (1912), kamen wir in ein kurzes Gespräch über diese Querverbindungen, das ich in Englisch führte. Die Kustodin konnte dem folgen und daraus entspann sich ein von Zweifel geprägtes Reden mit ihrem Kollegen, der ihr die Sprachkenntniss, die ihm offensichtlich neu waren, nicht abnahm. Er trennte die Kollegin dann auch von uns und machte sich zu unserem guide für den Rest der Sammlungsteile.
Ein sehr schöner „Evangelist Markus“ von Mattia Preti (1613 – 1699) aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhundert begeisterte mich in der Sammlung des Museums. Der Evangelist scheint hier in die Gestalt des hl. Hieronymus geschlüpft zu sein, mit der künstlichen Höhle durch den Torbogen und dem Markus-Löwen, der ihn schlafend bewacht. Aus dem Evangelisten scheint bei Preti ein hippyhafter Intellektueller geworden zu sein. ich empfinde das Gemälde als sehr zeitgemäß.

Der Apostel Paulus mit einer großen Nähe zum Hieronymus
Vom erhöht liegenden Museum stiegen wir durch enge Gassen hinab zum Busento, an dessen Ufer eine befremdlich wirkende, aber sehr treffende Skulptur vom Gotenkönig Alarich steht. „Nächtlich am Busento wispern…“ kam mir in den Sinn und ich fragte mich, warum ich in der Schule noch diese Augsut von Platen Ballade mit seinem 19. Jahrhundert Weltbild gelernt hatte.

hoch auf seinem Pferd steht der Gotenkönig in Würde und Scham, geschmückt mit den Spiralen der Unendlichkeit
Wir überschritten den leise plätschernden breiten Bach mit dichten Vegeationsufern und bummelten durch das komplett entvölkerte centro storico, den historischen Stadtbereich. Es war bemerkenswert, das kein Café geöffent war, kein Laden offen und niemand auf der Straße. Wir erlebten bei schönem Sonnenlicht eine unbelebte Stadt (was uns beim abendlichen Essen im Hotel niemand glauben wollte).

Sonntag ist auch ein Waschtag im centro storico
Der Sonntag war ein Tag der Stille, kaum gestört durch Autogeräusche und sanft begleitet vom Plätschern des Busento.
Die Stille des centro storico war noch keine Totenruhe, aber wieviel Lebendigkeit in den herrlich verschachtelten Straßen und Gassen sich noch hält, konnten wir nicht einmal am Montag feststellen, als immerhin viele Geschäfte offene Ladentüren zeigten. Verblüffend viele onorance funebre, Beerdigungsinstitute, säumten unsere Wege. Viele „vendesi“ Schilder an Hauswänden zeigten Leerstände an, sehr viele ebenerdige (Laden)Räume waren mit schweren, oft dem Verfall anheimgestellten Türen verschlossen. Lebendig wirkte die alte Stadt nicht, aber pittoresque und durchaus anziehend.