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Begegnungen, Gespräche, Erlebnisse

Eine Kunst-Stadt im Tokyoter Bereich

Das Faret Tachikawa Art Projekt

Bei einer Recherche zum israelischen Künstler Menashe Kadisman (1932 – 2015) stieß ich auf eine ausladende Skulptur in der Nähe meines derzeitigen Aufenthaltes; zur drei Stationen mit dem Vorortzug, dann Umstieg in den Tama Monorail und in weniger als 45 Minuten konnte ich dort sein.

Die Arbeit von Kadisman, den ich mehrfach in Deutschland und Israel getroffen hatte, ist Teil des Faret Tachikawa Art Projekts, das um die Mitte der 1990er Jahre geplant und durchgeführt wurde.

Ein professioneller Auftritt im Internet begleitet zeitgemäß gekleidete junge Besucher durch eine moderne Stadt , deren Hochhaus-Aspekte an New York, Chicago oder Los Angeles denken lassen (aufrufbar auch über YouTube). Als Erläuterung des Projects wird durch Schriftzug deutlich gemacht: „…it brings people and place together.“

Der Titel „Faret Tachikawa Art Project“ ließ mich an einen industriellen oder werbetreibenden Sponsor denken. Aber als ein solcher Hintergrund ließ sich nicht finden. Ich fand nur den Namen des verantwortlichen Kurators (art directors), der möglicherweise auch der Initiator war, denn mit ihm verbunden ist die „Art Front Gallery“ mit 50 Mitarbeitern. Fram (eigentlich Furamu) Kitagawa, geboren 1946 startete nach einem Kunststudium in Tokyo 1978 mit einer Antoni Gaudi Ausstellung, die er in 11 japanischen Städten plazieren konnte. Damit war wohl schon die Idee geboren, eine „company active in all apsects of art“ zu gründen – so überschreibt die Art Front Gallery heute ihre Aktivitäten und Ziele. Die Liste der Ausstellungen und Kunstaktionen ist sehr lang.

Warum das Faret Tachikawa Art Project gegründet wurde, wird nirgendwo explizit erläutert, doch mit einigen Puzzle-Stücken erschließt es sich durchaus:

der Ort Tachikawa wurde 1889 im süd-östlichen Gebiet von Tokyo nach der Einführung moderner Kommunalverordnungen gegründet. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Amerikaner Japan bereits gezwungen Häfen für den internationalen Handel zu öffnen, was zum Ende des 259 Jahren währenden Tokugawa Shogunats und zur Wiederherstellung der Herrschaft des Tennos führte. Japan modernisierte sich im Stil amerikanischer und europäischer Länder. Der neue Tenno (Mutsuhito) gab als Motto seiner Herrschaft „meiji“ (= aufgeklärte Herrschaft) aus. Es folgten umtriebige diplomatische Auftritte; der erste war 1873 auf der Weltausstellung in Wien. Auf diese Neubesinnung kaiserlicher, demokratisch ummantelter Herrschaft zielt wohl der Hinweis auf die „moderne Gemeindeordnung“ (Wikipedia) ab.

Tachikawa bot ein großes flaches Areal, das von 1922 an von der kaiserlichen Armee als Air field genutzt wurde (Wikipedia, engl.) Von 1929 – 1933 befand sich dort der erste internationale Flughafen von Tokyo. Nach 1933 wurde das Flugfeld nur noch militärisch genutzt und erweitert um eine angrenzende Flugzeugproduktion. Das führte im Zweiten Weltkrieg zu intensiven Angriffen der US Air Force. Nach dem Ende des Krieges übernahmen die Amerikaner den Flugplatz, der dann während des Koreakirges und danach auch für den Vietnam Krieg ein wichtiger Stützpunkt wurde.

1977 ging der Flugplatz wieder an Japan zurück und wurde von der japanischen „Selbstverteidigungs-Luftwaffe“ genutzt. Dabei blieb ein großer Teil des ursprünglichen Gebietes ungenutzt. Ein Teil wurde weiterhin als Evakuierungsflächen bei Erdbeben freigehalten und ein kleiner Teil mit einer neuen „Stadt“ bebaut (japanvisitor.com/tokyo/tachikawa).

Diese neue „Stadt“ wurde am 13. Oktober 1994 geboren und besteht aus 11 Gebäuden, die allesamt kommerzielle genutzt werden: Hotel, Kaufhaus, Kino, Bücherei/Bibliothek oder Verwaltungsgebäude. Vier Jahre später wurde der heute noch intensiv genutzte Monorail (Einschienenbahn) eröffnet.

 

Der neue Bereich vom „alten“ Tachikawa nennt sich Faret Tachikawa. „Faret“ bedeutet fare T(achikawa). Fare ist ein italienisches Verb = tun.

 

Das alte Tachikawa versteckt sich unter alten Bäumen am Rande des Neuen.
Man muss aber in die Nebenstrassen laufen, die still und verschlafen wirken

Dieser neue Tachikawa-Stadtteil, der ja nur durch Arbeits- und Konsumaspekte belebt wurde, konnte zu einer Blaupause für ein neues (nur japanisches?) Stadtleben werden.

Ein kleiner Eindruck von Faret Tachikawa, wenn man aus dem Monorail auf Einfamilienhaus-Dachhöhe aussteigt:

Blick 1 aus der Hochebene des Monorail Bahnhofs

 

Die Füße des Monorail

 

 

 

 

 

Blick 2 auf Faret Tachikawa

 

 

 

Blick 3 auf Faret Tachikawa, mit einem Kunstwerk

 

 

 

 

 

 

Faret is now a model for regional art-based revitalisation“, schreibt Initiator (?) und Kurator Fram Kitawara. Etwa in einem Jahrzehnt wurden 109 Werke von 92 Kündtlers aus 36 Ländern für Faret Tachikawa entwickelt und installiert. – Nach Informationen über Kosten und die Auswahlstrategie habe ich bisher vergeblich gesucht.

Aber ein Spaziergang um die vier Blöcke erweckt Assoziationen und Fragen. Und das ist eine wichtige Kraft von Kunst.

Hier folgen ein paar Beispiele und kurze Kommentare oder Erinnerungen von mir:

Hier sieht man deutlich, dass Kunst gemeint ist. Und man sieht sogar eine doppelte Zeit der Kunstgeschichte: Tendenzen die frühen 1930er und der späten 1970er Jahre.

 

 

 

Hier kommt man ins Grübeln: Kunst oder doch Architektur? Da nirgendwo an den Werken eine Plakette Aufschluß und Auskunft gibt, muß man dem eigenen Wissen oder Gefühl trauen.

Auskunft findet man aber im Internet unter Faret Tachikawa Art Project. Man muß sich durch den dort einsehbaren Lageplan durchklicken.

Ein Teil der großen Wand-Skulptur von Menashe Kadisman (1932 – 2015) mit einem sehr poetischen und existentiellen Hinweise: Tiere lächeln nicht, Menschen schon.

Kadishman hat immer in Gesprächen darauf hingewiesen, dass er erst Schäfer gewesen sei. Ob es stimmt, habe ich nie kontrolliert, denn es war für ihn eine Beschreibung seiner Nähe zu Natur und Natürlichkeit. Beides bedeutete für ihn Menschlichkeit.

Schwer zu entschlüsseln ist dieses Kunstwerk von Marina Abramovic (1936 in Belgrad), der großen Performerin. Die Rosenquarz Steine sind Stand- und Haltepunkte für Hände, Füße und Kopf. Marina Abramovic hat zusammen mit Ulay über viele Jahre die Stille und die Zeit zu Materialien der Kunst gemacht. Als Solo-Performerin schwebte sie danach oftmals im Verharren, einer geistigen Kreuzigung.

Niki de Saint Phalle ist auf sehr andere Art als Marina Abramovic eine Frau, die sich zwischen Märchen und Welt, zwischen Verletzung und Heilung bewegt. Wie Kadishman ist Niki de Saint Phalle den Tieren, ihrer Geschichte, ihren Mythen und ihren Kräften sehr nahe.

Bei diesem Kunstwerk vergeht die Ratlosigkeit der Besucher erst, wenn man beginnt, mit den Gegenständen des Alltags (es sind reale Verbots Poller) zu spielen – sie als wandelbare Elemente zu nutzen.

 

 

 

Dieses Haus-ähnliche Gebilde steht in einer gepflasterten parkähnlichen Raucherecke und erinnerte mich an skulpturale Arbeiten von Per Kirkeby (1938 – 2018).

 

 

Let’s go Pop – die Stadt und ihre Kunst sind hier getreulich vereint.

 

Manchmal spielen die Sonne und die wenigen Bäume in den Straßen  mit der Kunst und geben ihr eine eigene „natürlich“ Aura. Man muß allerdings zur rechten Zeit am Ort sein.

 

 

 

Manchmal fragt man sich beim Flanieren entlang der Straßen von Faret Taxchikawa, wo die Kunst anfängt und die Architektur aufhört oder wo die Architektur zum Rahmen der Kunst wird. Wenn man aber nicht Flaniert, sieht man diese Frage nicht.

Aber: hinter aller Kunst steht immer noch die Wirklichkeit, wenn die Wirklichkeit nicht schon in der Kunst ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

Japanische Höflichkeit oder Problemlösung auf japanisch

Sie ist sprichwörtlich, die japanische Höflichkeit. Wer einmal in Japan war, kennt das leichte Nicken mit dem Kopf, die leichte Seitwärtsbewegung eines Mannes oder einer Frau, die einem entgegen kommen und einen selbst schon mal gesehen haben oder aber den Ausländer auf diese Weise willkommen heißen.

Zur Höflichkeit gehört auch, dass man auf alles mögliche hingewiesen wird: im Zug, wen man bei Notfällen oder beim Beobachten von Ungewöhnlichem kontaktieren soll, an der Supermarktkasse auf den Betrag seines Einkaufs, den man als Nicht-Japaner so rasch als korrekt nicht realisieren kann, bevor man die „confirm“-Tasdte drücken soll und an Baustellen mit sichtbarem Aufwand an Menschen und Material, wohin man seine Schritte unbedingt wenden und ob und wie lange man stehen bleiben muss.

Als Ausländer ist man immer in Gefahr, eines der vielen ungeschriebenen und unbekannten Verhaltensmuster verletzt zu haben.

Gerade beim beliebten JR Rail Pass, der das Reisen in Japan preiswert und vielfach einfach macht, werden dabei womöglich auch irreführende Missverständnisse eingebaut. Bei den vorangegangenen drei Reisen habe ich mit den Rail Pässen gute Erfahrungen gemacht. Bei dem jetztigen Aufenthalt führte mich meine Suche auf neue Anbieterseiten, deren europäische Standorte ich der Anbieterseite erst nach der Buchung entnehmen konnte.

Ich buchte u.a. einen JR East-South Hokkaido Rail Pass, denn ich wollte mich gezielt durchs Land bewegen. Auf der Innenseite befindet sich eine Landkarte mit Städten und Verbindungen. Welche Verbindlichkeit die Ortsnamen und Streckenlinien haben, wird nicht deutlich ausgeführt. Dafür wird aber darauf hingewiesen, dass bei etwaigen Übersetzungsfehlern ins Englische, Chinesische und Koreanische die japanische Version bindend ist. [„If the English, Chinese (traditionell or simplified) or Korean translation of these conditions of carriage is queried, the Japanese version shall be considered correct.“]

Es ist wie an der Supermarkt Selbstbedienungskasse: wenn ich den Kassenzettel noch nicht ordentlich geprüft habe und dennoch bei „confirm“ gedrückt habe, gibt es keine Möglichkeit des Einspruchs mehr. Fehler machen Japaner nicht! Wenn sie aber trotzdem entstehen, versucht man unter allen Umständen recht zu haben, danach aber nicht unbedingt zu handeln.

Ich buchte von Akita nach Niigata ein Ticket, das ich erhielt. Niigata war aber als Namen nicht auf der kleinen Landkarte verzeichnet. Es irritierte mich nicht, weil ich nicht davon ausging, dass alle möglichen Haltepunkte des Gebietes aufgeführt sind.

Beim Ein- und Austreten der Bereiche der verschiedenen Linien muss man den Rail Pass vorzeigen. In Niigata gab es dabei keine Reaktion – der Bahnhof kam mir sehr unübersichtlich vor, ich mußte mehrfach nach dem Ausgang fragen. Plötzlich stand ich außerhalb des Bereiches der verschiedenen Zug-Gesellschaften. Ich ging gleich zum JR Rail Pass Schalter und orderte für meine Weiterfahrt zwei Tage später Karten nach Toyoshima, einer kleinen Station in den japanischen Alpen. Bis dahin mußte ich dreimal umsteigen, in Takasaki, Nagano und als letztes Matsumoto.

In mein Tagebuch schrieb ich, meine Tochter, die im Großraum Tokyo lebt, hat sehr gute Vorarbeit geleistet, „die sehr hilfreiche junge Frau in Niigata konnte auch keine bessere Verbindung finden. Sie hatte sich immer wieder entschuldigt, wenn sie wegging, um etwas nachzuschauen. Es störte mich nicht, ich hatte Zeit, in meinem Hotel konnte ich erst um 15.00 Uhr einchecken. Es war schön zu sehen, wie die junge Frau, die meine Fahrkarten zusammenstellte nach jedem Gang, den sie vom Schalter weg machen mußte, lächelnder, fröhlicher und erleichterter zurück kam. Ich habe sie als sehr herzlich empfunden. Sie kam mir sogar noch nachgelaufen, weil sie mich ein klein wenig falsch zum Hotel geschickt hatte. Ich hätte es wenige Schritte weiter gemerkt, aber so war es nochmals ein herzliches gegenseitiges Anlachen.“

In Takasaki wurde ich angehalten mit dem Hinweis, dass mein JR Pass hier nicht gültig sei. Ich verwies auf meine gültigen Tickets und die Umstände des Erwerbs. Man ließ mich warten. In letzter Minute schickte man mich mit einem handgeschriebenen Begleitzettel zum Bahnsteig.

In Nagano erhielt ich erneut den Hinweis, dass mein JR Pass hier nicht gültg sei. Ich wiederholte meine bisherigen Argumente. Man mußte, wie schon in Takasaki, mit dem „Chef“ sprechen. Ich hatte zwar 45 Minuten Zeit zum Umsteigen, aber es wurde zeitlich immer enger. Kurz vor Abfahrt des Zuges wurde ich nochmals vertröstet. Also eine Stunde Wartezeit auf den nächsten Anschluß. Die Zeit verstrich, meine Gesprächspartnerin kam von einer anderen Seuite (in meinem Rücken – zufällig oder bildhaft bedeutsam?) und bedeutete mir, ihr zu folgen. Sie legte einen typisch japanischen Eilschritt vor, führte mich um Sperren herum und brachte mich an den Zug, der jeden Moment abfahren mußte. Als die Türen sich schlossen, verschwand sie wieder. In Matsumoto wurde ich wieder am Ausgang auf die Ungültigkeit des Passes angesprochen. Ich schaute den Mann wenig überrascht an und sagte ihm, er wäre der Dritte heute. Er lachte, nahm mir das ticket aus der Hand und ließ mich gehen.

Ich war nun einen halben Tag ohne die Berechtigung mit meinem JR Rail Pass unterwegs und wurde hier, vor der letzten kurzen Wegstrecke (Yen 230) aus- oder abgeschoben.

Das ist eine noble Form, sich aus der Bedrouille zu ziehen, denn an allen Stationen wurde mir gesagt „it’s your fault“. Ich musste bei jedem Umsteigen vor allem konzentriert und freundlich kooperativ, aber vor allem bestimmt sein.

War es für die JR Mitarbeiter(innen) unmöglich zu sehen, dass sich zwei Fehler ineinaner verhakt hatten? Ich hatte auf die Richtigkeit vertrauten können, dass es korrekt war, nachdem ich die Tickets für die drei Teilstrecken ab Niigata, das ich ja nicht hätte erreichen dürfen, erhielt und man hatte mir zwar zur eigenen Reinwachsung zweimal gesagt, es wäre meine Schuld, aber diese Schuld wurde mir nicht nachgewiesen. Man brachte mich statt dessen so weit irregulär in die Züge, bis ich außerhalb des Netzes der schnellen Züge war. Danach wird anders kontrolliert und die Bahnsteige sind auch durch andere Eingänge erreichbar. Man entzog mich der regulären Kontrolle an den Eingängen und bestrafte mich zumindest einmal mit einer (bewußten?) Zeitverzögerung.

Als ich das System endlich verstand, war ich schon aus dem Geltungsbereich heraus. Ich kaufte mir für den letzten Abschnitt eine neue Fahrkarte für den Preis von 230 Yen (knapp 3€).

Tokyo umzu (1) – Eindrücke eines Spaziergangs

gestaltete Natur zwischen Universität und Einklaufszentrum

 

In der Nähe meines aktuellen Standquartiers zwischen Tama Center und Hashimoto im Großraum Tokyo gibt es neben dem Straßen- und Schienensystem, das ich bisher für meine Ausflüge genutzt habe, ein stilles und nicht gleich sichtbares Wegenetz. Breite straßenähnliche Wege für Fußgänger und Radfahrer verbinden Wohnsiedlungen, die man von den Bahn-Stationen und Einkaufplazas nicht sieht. Bisher habe ich die Menschen einkaufen gesehen, sie aber kaum in ihrer Wohnumgebung erlebt.

Heute spazierte ich endlang ihrer Wohnbereiche und entdeckte viel Grün und vielerlei kuriose Ästhetik.

Ein kleiner Bilderbogen von der Metropolitan University Tokyo bis zum Kamiyugu Park.

Der Park ist der grüne Schopf der höchste Erhebung in der nähern Umgebung: ein Ziel, das man über das autofreie Wegenetz erreicht. Der breite Weg ist flankiert von noch dünnstämmigen Bäumen, hinter denen sich sehr verschiedene Fassaden verstecken. Ich habe den Eindruck, dass der Weg eigenständige kleine Siedlungen verbindet. Gesehen habe ich Eltern(teile) mit kleinen und mit Grundschul-Kindern und alte Leute. Die Wohngebäude wirkten still und stumm. An allen Fassaden waren Balkone zu sehen, aber nirgendwo sah ich eine Nutzung; ich weiß aber, dass sie vor allem der Trockenraum für die Wäsche sind.

Der Himmel war während meines Spaziergangs bedeckt, aber ich kann ermessen, dass die Wege auch bei Sonne schattig sind. Grundschulen und Sporthallen flankieren den Weg. Zum Einkaufen muß man vermutlich auf die höher gelegenen Ebenen des Durchgangsverkehrs wechseln oder zur Plaza an die nächste Bahnstation.

Nur Grün und nur Hausfassaden ist vermutlich nicht genug. Entlang des Weges fand ich im Abstand weniger hundert Meter skulpturale Elemente, die mir nicht vermittelten, dass sie Kunst sind, aber auch nicht Spielgerät oder Zeugen einer unerklärlichen Vergangenheit.

Trennung von Grün und grau – japanische Ästhetik im Alltag?

 

geschlossene Idylle

 

Fensteridyll mit Blick zur Straße

Sitzbank? Spiel-Landschaft? Kunstwerk?

 

Wohnen wie in Wanne-Eickel. Mir fallen die alten Bergmanns-Siedlungen ein.

Ein sommertrockener Wasserfall, natürlich künstlich.

Leider keine Kletterwand

Balkone nur als Wäsche-Trockenraum

Charakterisiert ein Entenschnabel eine Ente? Eine offene Frage und ein offenes Volumen.

Steinhaufen in Form eines Schuhs, bewußt geformt und als Paar um eine öffentliche Toilette aufgestellt

Ein Innenhof mit deutlichem Zugang zur Außenwelt. Leben im Gegensätzlichen.

 

 

San Daniele – ein Besuch kurz vor dem 35. Schinkenfest

Ausflug nach S.Daniele, in die Stadt mit den bekannten Schinken. Der Bus braucht etwa eine Stunde und wir haben den Besuch auf den Nachmittag gelegt. Für den Nachittag war mal wieder Regen angesagt.

Die Busfahrt über Land war angenehm; hinter Udine weiteten sich die Täler, es zeigten sich entlang der Straßen ausgedehnte Weingärten. Der Bus hielt immer mal zwischendurch, hatte aber keine optische Haltestellenanzeige. Wir näherten uns S.Daniele, konnten Hinweisschilder sehen und eine Stadt am Berghang. Eine Frau machte bei einer Abbiegung den Fahrer darauf aufmerksam, dass irgend etwas gesperrt sei – so fühlte ich den Inhalt ihrer kurzen Konversation. Sie setzte sich nach vorn, in die erste Reihe schräg hinter dem Fahrer. Sie dirigierte ihn offensichtlich, er fuhr, so schien es (und so war es auch) wieder aus der Stadt heraus (S.Daniele ist recht klein). Auf den beiden Stadtplänen, die wir vor Beginn der Fahrt konsultierten, war die Endstation (wie wir annahmen) deutlich eingezeichnet, die Piazzale IV. November. Die Sperrung der Innenstadt wegen des bevorstehenden Schinkenfestes aria di festa erschien uns als möglicher Grund für eine kleine Verlegung, aber der Bus fuhr wieder in die Landschaft, durch Dörfer, die neue Namen trugen. Die noch verbliebenen Mitfahrer kannten offensichtlich die Strecke, sie drückten einer nach dem anderen die Halteknöpfe. Also konnten wir noch nicht an der Endstation sein. Aber dann hatten wir doch ein mulmiges Gefühl. B. fragte den Fahrer. Er antwortete, an der Haltestelle für die Piazzale seien wir vorbei, aber er würde uns wieder zurück bringen. Er holte uns nach vorne, damit wir einen schönen Ausblick hatten und kurvte durch die Landschaft. Es stieg niemand mehr aus und niemand mehr ein. An einer angedeuteten Haltebucht hielt er. Es gab um uns herum nicht mal ein Städtchen. Wir wollten aussteigen. Nein, meint er. Nach einer nur durch Augenblicke gefühlt verlängerten Pause drehte er und fuhr zurück, wieder durch grüne Landschaftsausschnitte und näherten uns erneut der Stadt auf dem Hügel.

Richtungsweiser

An einer unscheinbaren Ecke, neben einer Ziegelsteinmauer hielt er und erläuterte: Hier, wo wir ausstiegen, sollten wir für die Rückfahrt auch wieder einsteigen. Vage Vorstellungen, dass wir hier schon auf dem Hinweg mal vorbeigekommen waren, blieben unsere Anhaltspunkte. Es gab einen Sportplatz gegenüber und ein Straßenschild, das irgendwie auf S.Daniele verwies. Wir stiegen steil bergan und spürten dadurch deutlich die Hitze des noch frühen Nachmittags.

Identität stiftende Feierkleidung

S.Daniele zeigte sich als Stadt in Erwartung. Entlang der Straßen zum Dom standen weiße Partyzelte. Es schien, als ob man die Osmanen, die durch die Festung von Palmanova in Schach gehalten wurden, zu einem Umtrunk erwartete. Bierbänke und -tische waren vor und neben den Zelthüllen gestapelt, meist noch in durchsichtige Plastikbahnen gehüllt. Der Dom, um den die wichtigste Straße von S.Daniele führt, versprach ein Refugium zu sein. Doch innen wirkte er grau und wenig einladend.

Kopf der Fortuna

Vier Tugendstatuen an vier mächtigen Pfeilern wurden mir zum Lichtblick. Sie waren, nach meinem Empfinden, der perfekte Ausdruck unserer 1950er Jahre – Nachkriegsasketen, mit nachdenklichen Körperhaltungen von Unbeweglichkeit und Abwarten. Sie erinnern an Gerhard Marcks‘  Bronzetüren.

S.Daniele war konzentriert auf die Festeinrichtungen. Daneben schienen die Häuser und das Alltagsleben in tiefen Schlaf zu versinken. Da fielen die ersten Tropfen des angekündigten Regens. Wir gingen zur provisorischen Bushaltestelle zurück, warteten mit mehreren Frauen, die sich entlang der Mauer verteilt hatten, auf den Bus der Regenschutz versprach. Er kam und brachte uns zurück ins trockene Udine.

 

Prudentia, die Klugheit

 

Was mit uns auf der Hinfahrt geschah ließ sich auch per Internetrecherche an Hand der Fahrpläne nicht mehr recherchieren. Unser Busfahrer war in seinem Zeitplan geblieben, aber wir fanden nur eine mögliche Pause in S.Daniele, aber keine weiteren Haltepunkte, die er aber tatsächlich angefahren hatte.

Fünf große Schinken-Produktionen sind an den Rändern von S.Daniele angesiedelt. Schweineställe sahen wir nicht und rochen auch keine. S.Daniele zeigte sich als saubere Schinken-Stadt.

Ausflug nach Pordenone

.Eine halbe Stunde mit der Bahn in westlicher Richtung Richtung Venedig. Bei der Rückfahrt stand als Zielbahnhof Trieste an der Anzeigentafel.

Der Blick aus dem Zugfenster unterschied sich kaum von den Bildern, die ich von anderen italienischen Zugstrecken in Kopf und Kamera gespeichert habe. Wenige Minuten nach dem Verlassen des Bahnhofs kommen die ersten Betonruinen von aufgegebenen Produktionsanlagen. Man kann nur selten erraten, was in den Gerippen vor Jahren oder Jahrzehnten produziert oder zusammengeschraubt wurde. Dann kommt die agrarische Landschaft, hier vor allem ordentliche Weinrebenreihen. Im Friaul unterbricht dann gelegentlich ein breites, in dieser Jahreszeit nahezu trockenes Flußbett aus weiß schimmernden Kieseln das Grün. Zur Zeit der Schneeschmelze muß es ein tobender Wasserteppich sein, der sich gen Süden wälzt. Jetzt ist es eine temporäre Wüste.

Der Fluß Taliamento im sommerlichen Bett

Der Bahnhof von Pordenone sieht wie jeder andere italienische Bahnhof aus. Er verrät nichts von der Stadt. Aber zwischen Bahnsteigen und Ausgang vollführt ein gegossener Bersaglieri einen kleinen Horn-Tanz.

Tanz mit Horn im Bahnhofsgebäude

Auch der Bahnhofsvorplatz zeigt noch kein eigenes Gesicht. Wenn man nach den Ausgängen einfach die Straße überquert , führt die Via Mazzini den Besucher zur Piazza Cavour, dem Verteilerring der Stadt, von dort in den Corso Garibaldi oder entgegengesetzt in den Corso Vittorio Emanuele II, die via Roma oder die Viale Martelli – alles Namen, die mit der Bildung eines einheitlichen italienischen Staates zu tun haben. Die Namen fassen Guerillakämpfer (Wikipedia) wie Garibaldi, Partisanen des 2. Weltkrieges wie Mazzini, den ersten italienischen König und seinen Ministerpräsidenten zusammen. Allein die Straßennamen halten die Besucher in der nationalen Erregung des Risorgimento gefangen.

Wir suchten den Weg in die ältesten Ecken der Stadt durch die kleinen Parks am Rande. So kommt man gewissermaßen durch die Hintertür in die Geschichte, nämlich durch die Gegenwart.

Das alte Rathaus und der Dom San Marco verweisen darauf, dass Venedig über lange Zeiten hin der Regent der Gegend war.

Reste früher Schönheit, hier noch gut erhalten

Nicht nur Wikipedia weist auf die malerische Altstadt hin, sondern natürlich auch die Touristenförderung mit ihren großformatigen Werbeblättern. Tatsächlich handelt es sich dabei vor allem um eine leicht geschwungene Straße, die heute den Namen von Victor Emanuele II trägt. Man sieht dort historische Fassaden mit Resten von Wandbemalungen – und somit von verpassten Restaurierungen. Die Texte des Informationsblattes bemühen sich um viele Details, vermitteln aber kein Verständnis für die historische Situation.

Die Palazzi am Corso Vitt. Emanuele II gehörten dem Landadel, über dessen Verhältnis zur Serenissima in Venedig der Jurist, Schriftsteller und Ratgeber Garibaldis, Ippolito Nievo ,1858/61 in seinen romanhaften Erinnerungen „Bekenntnisse eines Italiener“ schrieb: „Doch war das Los der armen Gemeinden im Würgegriff der umliegenden schloßherrlichen Gerichtsbarkeiten schon nicht heiter, so sah es mit den Befugnissen ihrer Oberhäupter gegenüber den Grundherren noch schlimmer aus. San Marco war beliebt, aber aus der Ferne und mehr des Pompes wegen; und im Grunde lag der Republik, vor allem im Friaul, die Ergebenheit des Adels zu sehr am Herzen, als daß man ihm ernsthaft mit dem Schreckgespenst der Kommunalgerichtsbarkeit gedroht hätte.“

Die heute zu bewundernden Palazzi waren damals die Prestigewohnungen der Profiteure der armen Landbevölkerung.

Der Palazzo der Fam. Mantica, die das Theater neben dem Dom in Udine besaßen (s. Vivaldi-Konzert)

Ich empfinde eine historisch zutreffende Information nicht als politische Agitation, sondern als Hilfe zum Verständnis der aktuellen und geschichtlichen Situation.

Pordenones historisches „Stadtleben“ endete noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts etwa an den Grundstücksgrenzen der Palazzi; man kann Reste der Ziegel gemauerten Stadtmauer noch heute hinter den Gärten sehen.

Das zeitgenössische Pordenone unterscheidet sich nicht von vielen italienischen Städten; man baut modern, aber man integriert nicht Altes und Zeitgenössisches. So fehlt der Stadt ein Einheit stiftendes Bild.

Repräsentation der Gegenwart: Provinzial Verwaltung in Pordenone

Udine: Friedhofsbesuch – ein sonntäglicher Spaziergang

Es ist sonntäglich ruhig; der Unterschied der Tage ist deutlich hörbar. Die Kinder auf dem Weg zur Schule fehlen, die frühen Busse und die übrigen Autogeräusche. Statt dessen rufen aus der „Ferne“ der Innenstadt Tauben, genauer: ich höre nur das Gurren einer Taube. Gesehen habe ich in der Stadt tatsächlich keine Taube. Hat Udine keine Taubenplage?

Erst gegen 9.00 Uhr pfeifft ein einsamer Vogel in der Nähe.

Am späten Nachmittag, nach dem obligaten Mittagsschlaf, zum großen Friedhof gegangen. Auf dem Weg dorthin, der schon auf dem Stadtplan kompliziert wirkte, standen wir ratlos an einem Straßenende und rätselten, ob wir links oder rechts gegehen müßten. Ein junges Paar mit Kinderwagen passierte unseren Standort und der Mann kam nach wenigen Schritten zurück und bot seine Hilfe an. Der Stadtplan verwirrte ihn ebenfalls spürbar; er wies in verschiedene Himmelsrichtungen und nannte Straßen, aber unseren Standpunkt fand er auf dem Plan nicht. Wo der Friedhof ist, wurßte er aber und erklärte uns mehrmals, wie wir zu gehen hätten. Vielleicht hatte er kein Vertrauen in unsere Aufnahmefähigkeit oder in seine Erklärkünste, also brachte er uns an die nächste, entscheidende Straßenkreuzung. Seiner Frau gab er den Haustürschlüssel und ließ sie mit dem erst 10 Tage alten Baby allein. Es wirkte winzig, machte aber mit einem üppigen Haarschopf viel wett. Auf dem Weg bis zur nächsten Straßenecke erzählte er, seine Frau sei Italienerin, er käme aus Rumänien, und eine seiner Omas aus Budapest. Weitere Zahlen gingen ein wenig durcheinander: ob er schon zwölft Jahre hier ist und insgesamt 25 Jahre lang gelernt hat, weiß ich nicht. Er sprach ein klangvolles Italienisch und arbeitet als „constructor“, vermutlich als Maurer oder etwas ähnlichem. Er wirkte sympathisch und sprach während des Weges ununterbrochen. Er brachte uns an einen Kreisverkehr und wies uns den richtigen Weg.

Blick von Grab zu Grab

Wir erreichten den Friedhof eine Stunde vor Toresschluß. Eindrücklich war das von dicken Mauern umgebene Innenareal, in dem sich eine regelrechte Totenstadt befand; jedes Grab war ein Haus im Gewandt der Moderne der Nachkriegszeit. Unter den Arkaden der Mauern befanden sich alte Familiengräber, in die Mauer oder in den Boden eingelassen.

 

 

 

 

Totenbungalow

Erdbestattungen im üblichen Stil, wie wir es von unseren Friedhöfen kennen, sah ich nicht. Erst nach der Umrundung des Friedhofareals, sah ich eine Öffnung zu einem weiteren Friedhofsteil. Dort befanden sich dann die „normalen“ Columbarien und die Erdgräber – und eine geteerte Straße öffnete diesen Bereich auch für Autos mit gebrechlichen Besuchern (wir trafen gleich auf ein solches Beispiel).

 

Grabmal einer Handwerker Familie, mit ausgebreiteten (metallenen)Werkzeugen an der rechten Seite

 

Familiengrab mit Portrait eines im WK 1 gefallenen Soldaten und einer Schwester (?), die ins 21. Jahrh. lebte

Der Rückweg führte uns durch unindividuelle, typisch italienische Wohnbebauungen und einen kleinen Park, der wie ein Pasolini-Idyll wirkte. Wir näherten uns von Westen der historischen Stadt und machten in einer unansehnlichen Straße einen kurzen Stopp, weil ein Schaufenster ein schönes farbiges Speiseeis-Angebot ausbreitete. Das Eis war schmackhaft und die Pause belebend. Nach drei weiteren Ecken waren wir „zu Hause“.

La Notte dei Lettori – ein pars pro toto Eindruck

Udine bietet im Juni ein viel versprechendes Literatur- und/oder Lesefestival: „La Notte dei Lettori“ – eine Nacht der Leser. Das mit den Lesern ist nicht so wörtlich zu nehmen und das mit der Nacht auch nicht. Die letzte von 14 Veranstaltungen am Freitag und von 35 Veranstaltungen am Samstag begann zwar tatsächlich erst um 23.00 Uhr (und bezog sich vor allem auf ein Zwiegespräch von Musik und Literatur). Und der Anteil der Leser war wohl bei allen Veranstaltungen vor allem der der Zuhörer.

Bereits im vergangenen Jahr habe ich die „La Notte dei Lettori“-Veranstaltungen kennen gelernt – und sie als ein wenig mühsam empfunden. Aber der Titel beflügelte schon da und ebenso auch heute meine Fantasie. Aus einer „Nacht der Leser“ könnte man ein reizvolles Veranstaltungskonzept machen, wenn man den Leser tatsächlich als einen Lesenden ernst nähme.

Dreizehn Läden aus dem Stadtzentrum boten einen Parcours für Kulturflaneure durch den historischen Stadtbereich. Für eine Stadt mit deutlich historischem Charakter, knapp unter 100.000 Einwohner, und einer erst 1978 gegründeten Universität (16.000 Studierende) – die sich als bilingual bezeichnet, aber verschweigt, welches die zweite Unterrichts- oder Studiensprache ist -ist die Zahl der Buchhandlungen erstaunlich hoch. Die Buchhandlungen, die ich im Zentrum gesehen oder besucht habe, sind eindrücklich und gut bestückt.

Udine wirbt mit einem umfangreichen Tourismus-Angebot, in das ich im Monat Juni auch die mit insgesamt 49 Veranstaltungen positionierte „Notte dei Lettori“ rechnen mag. Aber alle Veranstaltungen wurden ausschließlich in italienischer Sprache abgehalten, auch die mit dem in Triest lebenden, aber slovenisch schreibenden Autor Marco Kravos. Ein Gespräch mit ihm in der prestigeträchtigen Loggia del Lionello (1441), dem historischen Sitz der Kommune im damals gerade venezianisch gewordenen Friaul, erscheint mir typisch, weil es das sehr zeitgemäßte Thema („poeti di frontiera“) so sehr zwiespältig annonciert: sind hier die Poeten der Grenze gemeint oder ein Sprechen über (innere) Grenzen? Kravos wurde 1943 in Montecalvo Irpino geboren, in Campanien, wohin seine Eltern von den italienischen Faschisten verbannt wurden. Es lagen zwei Kinderbücher von ihm auf dem Büchertisch, aber nicht der Band, aus dem er zweimal vorlas.

Marko Kravos, geb.1943

Er wurde von zwei jüngeren Männern in dem mir bekannten und vertrauten Stil eines literarisch-akademischen Gesprächs befragt. Seine Antworten passten gut in das Spiel von erwartetem Festlegungsduktus und dem Ausweichen des Autors. Mein Italienisch ist nicht gut genug, um langatmige Auslassungen zu verfolgen, aber mein Gehör fein genug für atmosphärische Befindlichkeiten.

Marco Kravos ist im Verbannungsort seiner Eltern geboren, als Aussätziger sozusagen (man darf sich hier an Carlo Levi’s „Christus kam nur bis Eboli“ erinnern, der 1935/36 in einen etwas südlicheren Bereich als Kravos Eltern verbannt wurde). Es hätte nahe gelegen, den Autor Kravos nach der Nachhaltigkeit seiner Kindheiterlebnisse zu fragen. Etwa nach Einflüssen auf seine Kinderbücher.

Zwei Kravos Kinderbücher

zwei Kinderbücher von Marko Kravos

Praktische Grenzerfarungen waren, trotz der überall in Italien sichtbaren Migranten, auch in Udine, nicht Inhalt des Gesprächs mit dem Autor. Warum wurde die Gegenwart ausgeblendet?

Allein der Ton, in dem miteinander gesprochen wurde, wirkte trocken und altbacken. Während ich in den Büchern von Kravos blätterte, fielen mir viele Fragen zum Thema ein – Fragen, die den Allltag in dieser sprachlich italienisch und deutsch geprägten Stadt und Region jeden Tag prägen. Sie wurden hier eloquent umgangen.

Das Fotografier-Verbot in Kirchen

02.09.18

Schon beim ersten Besuch in Paduas Pilgerkirche „Il Santo“, Palmsonntag vor fast einem Jahrzehnt, wurde an den Kirchentüren deutlich darauf hingewiesen, dass in der Kirche das Fotografieren nicht erlaubt ist. Das überwältigende Gedränge beim Gottesdienst hatte mich bewegt, doch – in der cloud der Menschen – ein Stimmungsbild zu machen. Kurz darauf wurde ich von einem freundlichen, aber sehr bestimmten Herrn angesprochen, der mir auferlegte, das Foto wieder zu löschen. Er überprüfte auch den Löschakt. Mein Umgehen des Fotografier-verbots hatte mich damals beschämt. Und die immer noch vorhandenen, stark vermehrten Verbotshinweise, erinnerten mich wieder lebhaft an Palmsonntag.

Der Kirchenraum war beim aktuellen Besuch nur mäßig besucht, vor allem von Touristen. Am Eingang verteilten Männer, deren Aussehen und Auftreten zwischen security und seriösem Türsteher schwankte, dünne blaue durchscheinende Umhänge an Frauen und junge Mädchen, die zu viel Brust oder Bein mit in den geheiligten Raum nehmen wollten.

Ich nahm erst einmal den sich mir öffnenden Raum der Kirche auf, von dem ich vor allem den Kreuzgang und das Verteilen von Olivenzweigen (als regionaler Palmen-Ersatz) an Gläubige und  Zugereiste in Erinnerung hatte. Was mir gleich auffiel, waren die hochgereckten Arme und erhobenen Häupter, die eindeutig auf Smartphone-Displays gerichtet waren. Die Offensichtlichkeit erstaunte mich. Noch mehr allerdings, dass niemand die fotografierenden Besucher auf das Verbot hinwies.

Die stark besuchte Krypta hinter dem Hauptaltar, die in einen Reliquien-Raum für den hl.Antonius, gleich Il Santo, verwandelt worden war, war einer der touristischen Anziehungspunkte. Das langsame Abschreiten  der „Ikonostasen“, bei dem Gläubige und Touristen nicht von einander geschieden werden konnten, glich einem Abfilmen goldener Gefäße. Hinter einem runden, imposanten Tischrund saß ein alter Mönch, dessen Blick direkt auf die Gläubigen und Touristen gehen konnte. Er hätte jedes verbotene Foto gesehen. Aber er ließ seinen Kopf immer auf ein Brevier sinken, in das er seine Augen und Gedanken vertiefte.

Ich wanderte weiter durch die Kirche, hin zum gleißend weißen Erinnerungsaltar an Il Santo, dessen Rückseite einen Kraft spendenden Stein einfasste, den alle Gläubigen mit der flachen Hand berührten. Eine ähnlich Andacht habe ich im vergangenen Herbst im Ise-Schrein in Japan gesehen. Dort ragt der Stein ein wenig aus der Erde, ist abgesperrt, um Besucher und Touristen auf Distanz zu halten. Damit die Kraft auch sichtbar wird, werden die über den Stein gestreckten Hände auch fotografisch fixiert. – Den Akt der Kraftaufnahme hat in Padua (ausnahmsweise?) niemand fotografiert.

Über das hemmungslose, vor allem selbstverständlich hingenommene Fotografieren habe ich mich gewundert und auch geärgert. Ich kam mir, als jemand, der das Verbot ernst nahm, betrogen vor. Ich hätte gerne ein paar der eindrücklichen Raumkonstruktionen der Kirche fotografiert. Die meisten fotografierenden Besucher liefen demonstrativ durch den Raum.

Noch weitaus deutlicher wurde das ebenfalls in auffallender Häufigkeit angeschlagene  Fotografierverbot im eindrücklich ausgemalten Baptisterium des Doms ignoriert. Der Raum ist deutlich kleiner als Il Santo und komplett übersehbar vom Kustoden, der vor allem Postkarten verkaufte. Niemand wurde am Fotografieren gehindert. Nicht mal, wenn man direkt neben ihm stand.

Ich frage mich, warum das Fotografierverbot, das sicher nicht nur ausgesprochen wurde, um den Absatz von Postkarten mengenmäßig zu beeinflussen, so deutlich von dem Kirchen eigenen Personal geduldet wird. Damit ist das Verbot des Fotografierens obsolet. Da heutzutage nicht mehr geblitzt wird, ist eine Beeinträchtigung der Malereien nicht zu befürchten.

Da das Übertreten des Verbots nicht geahndet wird, kommt man sich als Besucher, der gerne (aus mancherlei Gründen) ein Foto mit nach Hause nehmen möchte, dumm vor, wenn man sich an ans Verbot hält.

 

Antonius hilft beim Wiederkommen

31.08.18

Nach Padua hat es mich wieder hingezogen. Der hl. Antonius, dem man nachsagt, dass er Verlorenes wiederbringt und Liebende zusammenführt, war wieder mein Nachbar beim Blick aus dem Hotelfenster. Es gibt ein wunderbares, kleines Hotel wenige Schritte von Il Santo entfernt (Näheres dazu ein wenig später), das mir ein gutes Gefühl gibt. Der Aufenthalt war nur für zwei Tage gebucht, denn es soll weitergehen nach Apulien und Kalabrien.

Fensterblick auf Il Santo

Vor dem Einschlafen schwirrten die dünnen Klänge der Stundenuhr durch die Luft und am Morgen wurde man damit wieder wach. Zu Hause höre ich schon lange keine Kirchenglocken mehr, die die Zeit ansagen oder zum Gottesdienst rufen. Hier gehört es noch zum Tag. Die italienischen Städte sind immer noch voller Kirchen und die geben immer noch den Takt an.

Wir sind die bekannten Wege gegangen, haben Erinnerungen aufgefrischt. Wir waren wieder im Botanischen Garten, besuchten erneut die Goethe Palme und haben den neuen und eindrucksvollen Bereich der Pflanzensammlung angesehen, die ein neues, überaus modernes und eindrucksvolles Glashaus bekommen haben; sehr eindrücklich. Insgesamt ist der Botanische Garten ein Schmuckstück geworden. Der Eintritt ist allerdings auch in die Höhe gegangen; aber kann man sich hier einen ganzen Tag aufhalten. Ein Café gibt es aber nicht.

Die Palme, die sich Goethe auf seiner Italienreise zeigen ließ, sprengt nun fast das Glashaus, das nur für sie gebaut wurde

Beim ersten Besuch in diesem alten, für die fremden Pflanzen in Europa so wichtigen botanischen Garten, war es noch kaum Frühling und das pflanzliche Leben schlief noch fast. Jetzt war der Garten bestellt und in herrlicher Ordnung, so wie man am Ende des 18. Jahrhunderts Pflanzen zu Studienzwecken zusammen stellte.

Das neue Schauhaus, ein riesiger Glas-Querriegel, erinnert ein wenig an den Londoner Glas-Palast in moderner Version. Die verschiedenen Pflanzenwelten sind übersichtlich zusammen gestellt und mit Tafeln verständlich erläutert. Man kann sich gut einen Tag lang hier aufhalten – was einige Personen und auch Familien offensichtlich gerne taten.

Das neue Gewächshaus mit den Vegetationsregionen der Welt

Natürlich wurden die wichtigsten Kirchen nochmals besucht: Il Santo, die ich endlich mal ohne Pilgergruppen erleben konnte und beeindruckt war von der stimmig verschachtelten Bauweise, der eindrucksvollen Bemalung und dem Mut, immer wieder neue Altäre in den alten Bau zu integrieren.

S.Justina, die der ältere der beiden wuchtigen Bauten ist, konnte mich nur als Bau-Hülle überzeugen: klar gegliedert und ein Raum, der für viele Heiligen und rege Andachten gebaut wurde. Aber die Kirche steht heute nackt da, ohne Flair und nahezu ohne Farbe. Verblichenes Grau erzählt nur von Tristesse.

Überzeugend war das Baptisterium des Doms inmitten der Stadt (obwohl die Malereien in einem beklagenswerten Zustand sind).

Am nächsten Morgen war der Frühstücksraum einschließlich einer terrassenartigen Außenverlängerung voller laut parlierender und frühstückender Bayern: Bei der Ankunft müssen sie sehr still gewesen sein. Jetzt waren sie aufgekratzt und starteten ihren Pilgeraufenthalt.

Danach ging es zum Bahnhof.

Die Zugfahrt nach Foggia war lang und ermüdend.

 

Japan Miszellen 2017 – Anmerkungen ohne strenge Reihenfolge 07

Klassische europäische Musik und aktuelle japanische Politik im Mit- und Durcheinander 

Hauskonzerte sind nur wenig geeignet, politische Gedanken zu transportieren. Allerdings haben künstlerische Treffen in Privathäusern überall auf der Welt auch politische Hintergründe und Wirkungen  gehabt. Japanische Dichter und Dichterinnen der Edo-Zeit haben die Verbindungen von artifiziell hoher Dichtkunst und politischen Aussagen gerne für Einflußnahmen auf die Politik genutzt. Einblicke dahinein entnehme ich der  Dissertation von Renate Noda „Reisende Frauen aus der Edo-Zeit und ihre Reisetagebücher“ (Übersee Museum Bremen, Tendenzen 2012 / Jahrbuch XX).

Mich hat der Abschluss des Hauskonzertes von Seiko Kakefuda (siehe die Anmerkung 06) aufmerksam und neugierig gemacht.

Daraus ist folgende Überlegung entstanden:

Auf Japans Kalendern steht heute, 23.11.: Arbeitsgedenktag – so wenigstens würde man übersetzen, was kinro kansha no hi bedeuten sollte.

Es ist ein gesetzlicher Feiertag, aber kein von Arbeitern erstrittener Ruhetag. Es ist, so wurde mir erklärt, ein „normaler“ Tag mit Arbeit und Einkaufen. Die studierte japanische Kirchenmusikerin Seiko Kakefuda, die nach 50 Jahren in Deutschland seit zwei Jahren wieder zurück in Tokyo ist, hat den Nachmittag mit einem „Kammerkonzert“ oder „Hauskonzert“ in ihrem „Studio“ gefeiert. Die Stühl waren bis auf den letzten Sitz besetzt – es waren 20 Besucher*innen. Geboten wurde Barockmusik. (Block)Flöte, Elektroklavier und Kontrabass waren die Instrumente.

Eigentlich möchte ich aber erzählen, dass der „Arbeitsgedenktag“ eher ein Erntedank-Tag ist und wieder, wie der Ise Schrein auch, bis an die Uranfänge der japanischen Kultur zurück geht. An diesem Tag nämlich wurde der Reis geerntet und der Kaiser – als die Verbindung zur Gottheit – durfte und mußte ihn probieren und der Göttin (den Göttern?) zum Opfer darbringen. Gewisserweise ein „Tag der Götterspeise/ Götterspeisung“. Und weil der Tenno als Sohn der Sonne 1945 abgedankt hat, mußte man diesen Tag umbenennen: jetzt ist es also der Tag, an dem man der Arbeit anderer (die für einen selbst gearbeitet haben) gedenkt. So jedenfalls erklärt das das Internet. Und gemeint sind dabei nicht nur die Bauern, die den Reis anbauten.

Die Japaner öffnen sich der westlichen Weltkultur und bleiben dennoch verschlossen in ihrer eigenen Sichtweise auf die Welt.

Die „Umnutzung“ des Ernte-Dank-Tages von einem mit dem Kaiser verbundenen religiösen Ritual in einen Tag, der in der westlichen, vor allem europäischen Kultur ein Gedenktag  gegen Unterdrückung und Diskriminierung ist, verknüpft Gegensätze: die kaiserliche Huldigung an die Sonnengöttin (als  allmächtige Mutter) mit dem Gedenken an den erfolgreichen Widerstand gegen Unterdrückung durch  Ausbeutung und Arbeit.

Das alles hat natürlich keinen Einfluß auf den Nachmittag und die Musik von Hayden und Händel gehabt. Aber das Zusammenspiel war doch höchst interessant, denn als letztes Stück auf dem Programmzettel  stand das in Deutschland als Adventslied, in Japan als Festmusik für große Ereignisse  gespielte „Tochter Zion freue Dich“. Ein Kirchenlied-Text auf eine Musik, die Händel in zwei Opern benutzte, die zwar das römisch besetzte Jerusalem nennt („Joshua“ und „Judas Maccabäus“), aber eigentlich einem englischen Sieg über die Stuarts huldigt.

Dieser „Unterton“ ist für das japanische staatliche Selbstverständnis ein wunderbarer Dreh: das Verbot eine eroberungsbereite und -fähige Armee halten zu dürfen, das die Amerikaner von der japanischen Verfassung verlangten und das Ministerpräsident Abe mit seiner neuen 3/4 Mehrheit gerne wieder rückgängig machen möchte, wird mit diesem Kirchenlied-Zitat (das ja ein Huldigungszitat auch bei Händel ist) unterlaufen.

Das Kirchenlied, das zur Vorfreude auf Weihnachten (auch als den Tag der Geschenke) und das kommende „Reich des Erlösers“ aufruft, kann in Japan als politisch gern genutzte „Festmusik“ für die Gedanken des Ministerpräsidenten wunderbar instrumentalisiert werden.

Mit den Inhalten der westlichen Kulturwerte kann man durchaus gegen die Politik des Westens arbeiten und dabei nicht des Verrats bezichtigt werden.

Das hat die Hauskonzert-Veranstalterin allerdings nicht mit ihrem Schluß-„Akkord“ aussagen wollen. Aber es trifft die aktuelle Situation ungemein präzise.

 

Mein Fazit: wir müssen mehr über unsere eigenen Kulturwerte Bescheid wissen.