Der Bahnhof heißt Lugano, das Ziel war aber eindeutig der Monte Verità. Neben dem Besuch auf diesem Hügel, denn von bergen ist er zwar umgeben, aber selbst keiner, der heraussticht, war alles andere zweitrangig. Das Wetter bestätigte das mit warmen Sonnenstrahlen und heiteren Himmel.
Wer vom Monte Verità nichts weiß – und gar viele Besucher von Ascona wissen nichts von ihm – dem kann man nur schwer ohne Wortgeklinkel erklären, welche Mythen dort wohnen. Der Hügel über dem ehemaligen Fischerdorf Ascona wurde am Ende des 19. Jahrhunderts zum Sehnsuchtsort für Utopisten, Sozialisten, Nudisten, Veganer, überhaupt für alle, die die immer noch monarchistischen Gesellschaften in Europa zum echten Leben befreien wollten. Sie kamen und steckten ihr Geld in das gemeinsame Leben und ein Stück unbebautes Land, verloren es an die Unrealisierbarkeit der Utopie und gaben es an die nächsten Gläubigen weiter. Einer der Frühen war der holländischen Fabrikantensohn Henri Oedenkoven, der 1904 ein erstes stabiles Holzhaus baute und noch 1913 seine „Statutern der individualistischen Cooperative von Monte Verità“ noch mit „Generaldirektor“ unterzeichnete. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm der Baron Eduard von der Heydt, Bankier und Kunstsammler den Monte Verità für einen Bruchteil dessen, was Vorbesitzer Oedenkoven haben wollte. Er wollte hier eine mondäne Sommerfrische für die betuchte Gesellschaft aufbauen. So ganz hat das nicht geklappt, denn bis fast zum Sieg der Nationalsozialisten fanden sich am Monte und in der Umgebung noch viele Künstler der Reformbewegung und Politiker der Linken ein, bevor 1927/29 die Bauhaus-Professoren von Schlemmer, Klee bis Gropius vorbeischauten.Heinrich Vogeler gab in der Nähe mit Fritz Jordi die Zeitschrift „Fontana Martina“ eine zeitlang heraus und der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam, der schon 1934 im KZ Oranienburg ermordet wurde, war ebenfalls im Hort der Unangepassten zu Gast.
Zwei linke, kommunistische Künstler, die unter den Rechten (Mühsam) und den eigenen Genossen (Vogeler) litten. Sie waren nicht unbedingt einer Meinung, aber sie hatten gleiche Utopien.
Neben Schriftstellern waren Gesundheitsapostel, Sonnenanbeter, Musiker, Tänzerinnen und Tänzer gern in der Kolonie der Zukunftsgläubigen. Sie machten für die Anwohner, biedere Fischer und Bauern, wohl das meiste Aufsehen. Sie arbeiteten nicht nur wie Adam und Eva im Garten Eden, nämlich unbekleidet, sondern sie garnierten ihre Blöße gerne mit unverständlichen Verrenkungen oder ihrem schon damals schrillen und bewunderten Namen – etwa die Tänzerinnen Isadora Dunkan, Mary Wigman oder Charlotta Bara. Für Letztere entwarf der bodenständig-sentimentale Fidus einen „Tempel der Erde“-
Alle Sentimentalitäten und alle ersthaften Prognosen flossen ineinander, weil man vor allem die Welt verändern wollte. ‚Weg von der gesellschaftlichen Unterdrückung“ – das war das gemeinsame Ziel.
Man war, in der heutigen Terminologie, „grün“, aber menschlich und politische gesehen keineswegs einig.
Bis in die 1970er Jahre mußte man sich zum Thema „Monte Verità“ Literatur mühsam zusammen suchen, obwohl in den frühen Nachkriegsjahren eine Reihe Erinnerungsbücher von Beteiligten und Betroffenen erschienen. Die Wirtschaftswunderjahre war aber ein steiniger, trockener Boden für sozialpolitische Utopien. Die Erinnerungen an den „Berg der Wahrheit“ überlebte wieder einmal vor allem in den anarchistischen und esoterischen Zirkeln. Bis der Schweizer Kurator Harald Szeemann 1978, nach seiner grundlegenden und spektakulären Ausstellung „Life in your Head – When Attitudes become Form“ in Bern 1969 (und seiner anschließenden Kündigung). Mit dem Berner Titel war (aus der Rückschau sehr verständlich) bereits der Einstieg in die archivarische Schau über den Monte Veritá enthalten. Das utopische Leben der Denker, Schreiber, Tänzer blieb in vielen Fällen vor allem in ihren Köpfen.
Szeemann, ein manischer Sammler und Archivar, trug eine unglaubliche Menge an Materialien zusammen und machte damit deutlich, dass hier zwar Individualisten sich verwirklichen wollten, aber als Erlösungswerk für alle. Zuvor hatte er seine Leidenschaft des Sammelns und die sich daraus ergebende Einsicht in die Unauslöschbarkeit des utopischen Wollens mit der dokumenta 5 (1972) in Kassel und den (künstlerischen) „Individuellen Mythologien“ demonstriert.
In der Show „La mammelle della veritá“ (Die Brüste der Wahrheit) zeigte er, dass nicht nur die Kunst, sondern auch das Leben zum „Erleben“ der Zukunft fähig ist. Die 1978 als Wanderausstellung konzipierte Sammlung von Exponaten ist nach der Restaurierung des Museuo Casa Anatta wieder auf dem Monte Verità zu sehen.
Eine weiterer Teil mit Text und Bildmaterial wird folgen