Archiv der Kategorie: 2019_Udine / Friaul

Auf der Suche nach dem verlorenen Triestiner Flair

Triest ist als Stadt für mich ein Solitär; nicht eingebunden in eine Landschaft, eher ein eigenständiges literarisches Geflecht. Theodor Däubler begleitete mich als massiger Körper vor römischen Säulen in einem Portrait von Otto Dix aus dem Jahr 1927 seit den Jahren meines frühen Erwachsenenlebens. Im alten Haus des Wallraff-Richartz Museums sass ich oft vor diesem Gemälde, das mich in eine mir damals unbekannte Welt führte. Abwartend, auf einem einfachen Stuhl in legerer Schräglage sitzend blickt Däubler ruhig aus dem Bild. Dix hat den 51-jährigen Schriftsteller in die Landschaft gestellt, aus der seine Versepen kamen, die einige Jahre zuvor noch als vorweggenommene Höhepunkte zeitgemäßer Literatur galten. Zum Zeitpunkt des Portraitierens wurde er fast nur noch von Freunden hoch geschätzt, zum Zeitpunkt meiner Entdeckung des Portraits galt er allgemein schon als unlesbar.

Ich habe Däublers Portrait im Geiste durch mein Leben getragen, ohne mehr als nur wenige Verse seiner Dichtungen gelesen zu haben. Jetzt wollte ich ihn in seiner Geburtststadt Triest finden. Geboren wurde er 1876 in Triest, in der von der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie so sehr begehrten Hafenstadt am nördlichsten Zipfel des Adriatischen Meeres, schräg gegenüber von Venedig und ein wenig nödlicher als Split, der Residenz Kaiser Dioclezians (die ich schon am Ende der Schulzeit besuchte).

Däubler war einer der unruhigen Geister des deutschen Kulturlebens zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, ein ewiger Wanderer, in einem Atemzug zu nennen mit Peter Hille und gern auch mit Else Lasker-Schüler. Däubler hat die lateinisch-mediterane Welt immer mit sich herumgetragen; er war überall und nirgend zu Hause. Auch in Hannover, meinem Wohnort seit einigen Jahrzehnten, hatte er seine Freunde, bei denen er als gern gesehener Gast einkehrte.

Statue Italo Svevo an der Piazza Hortis, am Ende des alten jüdischen Viertels

Für die meisten ist Triest aber eher die Stadt von James Joyce und Italo Svevo, die sich seit 1905 kannten und schätzten. Sie lasen gegenseitig ihre damals noch unveröffentlichten Werke. Italo Svevo (1861-1928), der italienische Schwabe/Deutsche, der ein Jahr nach Däubler starb, ist eine der sehr typischen Trieste-Figuren des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert: aus wohlhabender österreichischer und italienischer jüdischen Familie stammend, entsagte er dem Familienbusiness und lernte erst einmal ordentlich italienisch, bevor er mit dem Schreiben begann, denn von Hause aus sprach er neben deutsch nur seinen friaulanischen Dialekt.

Rainer Maria Rilke, ein weiterewchtiger Autor, der mit der Zeit und Triest verbunden ist, schrieb seine Duineser Elegien auf dem nördlich Triests gelegenen Schloß Duino.

Es mag weit hergeholt scheinen, wenn ich allen triestiner Autoren eine gewisse Melancholie und eine großzügige Weltumarmung mit mediteraner Intensität zuspreche, aber ich fühle es so als die Luft, die mich umgibt.

Palazzo Gopcevich am Canal Grande

Ich wollte eintauchen in die Atmosphäre dieser schreibenden Menschen, aber ich fand, was ich aus einem dicken Bildband kannte: protzige Fassaden und gleichgültige Touristen. In der Touristinformation erläuterte ein behäbiger und zurückhaltend freundlicher Mann für einen eintägigen Aufenthalt das mittelalterliche Quartier nicht weit von der zentralen Piazza dell‘ Unita D’Italiana und den Weg auf den Burgberg. Vom Mittelalter habe ich mit Glück ein kleines Fenster mit Steinumrahmung gesehen, ansonsten einkaufende Touristen.

Vielleicht ein Fenster zum Mittelalter

Der Weg auf den Burgberg war bei 29°C beschwerlich, aber nur mit drei Touristen besetzt.

Weg zum, Castello und zur Kathedrale S.Giusto

Mein Trieste-Flair ist immer noch ausschließlich innerlich, und da fühlt es sich auch wohl. Ich werde mit Genuß am Ende der Reise wieder in die Erzählungen und Verse der nur noch als Namen lebenden Triestiner Dichter eintauchen.

Das Alte neu oder aus Altem neu? Die Erdbebenstadt Gemona

Das Wetter ist heute vielversprechend: trocken und warm. Um 10.01 Uhr nahmen wir den Zug in Richtung Tarvisio, nach Norden an die österreichische Grenze, mit einem Knick nach Osten.

Gemona ist gleich die nächste Haltestelle nach Udine. Vom Zug aus sieht man wieder recht gut, dass die Berge – und das meint wirklich nicht : Hügel – rechts und links von der Bahntrasse (0ptisch) wirklich nicht sehr weit entfernt sind. Der Bereich der Ebene liegt weitgehend nur zwischen den Flüssen Tagliamento (im Westen) und Torre (im Osten).

Der Besuch in Gemona gilt denn auch der Gefährdung der Städte innerhalb der Bergmassive entlang des heutigen Sloveniens und Österreichs. Gemona wurde 1976 von einem starken Erdbeben heimgesucht. Nahe an tausend Opfer forderten einstürzende Häuser und Türme.

Gemona, vom Burgberg aus gesehen

Als zweite Stadt war Venzone, etwa 15 km. weiter nördlich, betroffen. Beide Städte wurden wieder aufgebaut.

Dem aktuellen Leben in Gemona sieht man keine Wunden mehr an und der interessierte Besucher muß Vorkenntniss mitbringen, um Zeugnisse der Zerstörungen zu erkennen. Am freistehenden Campanile (Kirchtum), der weitgehend kollabierte, erkennt man im unteren Bereich dünne rötliche (Stein)Linien, die die erhaltene Basis markieren. Ähnliche „Linien“ haben mir um die Mitte der 1960er Jahre am Marktplatz in Warschau angezeigt, wieviel vom ursprünglichen „Bild“ nach dem Krieg (dem Zweiten Weltkrieg) übrig geblieben war.

Ein lebendes totes Gebäude, das alte und neue Kino von Gemona

In der Nähe des Doms S. Maria Assunta gibt es eindrückliche Erinnerungsräume mit Fotos von den Erdbeben-Zerstörungen (Frammenti di Memoria). Sie berühren sicherlich die Erinnerungen der Betroffenen, den Besucher erreicht möglicherweise eher die Frage, warum leben die Menschen immer noch am „alten“ Ort.

Historische Fotos vom Dom

Die Menschen sind immer Wanderer gewesen, auch wenn sie durchaus für viele Jahrhunderte an (Wohn)Orten festgehalten haben. Ohne Wanderungen hätten sich die Menschen genetisch nicht entwickeln können.

Für Siedlungsplätze der Menschen gab es vermutlich immer triftige Gründe (Schutz, Wasser, Nahrungsangebote); was davon gilt heute noch? Gilt heute vor allem die Tradition, dass Vorfahren hier gesiedelt hatten?

Ich habe Fragen mit zurück an den aktuellen Standort Udine genommen – und den Eindruck von zwei sehr zeitbezogenen Kirchen, die beide beim Erdbeben zerstört wurden. Mit ihnen ist etwas neu gebaut, nicht wieder aufgebaut worden.

In Udine begann ich dann mit einer ausgedehnten Recherche, um mehr als meine Fotos von den beiden Kirchen als „Beleg des Lebens“ zu haben. Beide Kirchen wurden vom gleichen Architekten (auf)gebaut: dem 1938 in Udine geborenen Augusto Romano Burelli.

Innenraum von S. Antonio von Padua

Auf dem Rückweg vom hoch gelegenen Dom von Gemona zum Bahnhof blickte ich in einer Art offenen Hinterhof auf eine Kirche in zeitgenössischem Gewand: die Kirche des Hl.Antonius von Padua (die in Padua nur als Il Santo bezeichnet wird). Übrig blieb von dem ursprünglichen Bau nur eine Kapelle der Madonna del Rosario von 1687. Sie wurde vom Architekten Burelli, in ein neues Gebäude integriert. Die neue Kirche empfand ich als einen Schutzraum, geduckt und doch durch eine weitgespannte Decke offen. Ich kenne vergleichbare Räume aus Kirchen der 1970er Jahre; hier erinnerte sie mich an einen stollenähnlichen Raum im Berg. Die geduckte Weite des Raumes hat mich beeindruckt.

S.Lucia nach dem Erdbeben, Rückseite mit Absis

Kurz vor Erreichen des Bahnhofs zogen mich linker Hand einige helle Betonformen an. Vom ersten Blick konnte man an eine Art Silo denken, aber mit jedem Schritt um den Bau herum änderte sich sein Gesicht und die Gestaltungsweise. Ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass diese zweite Kirche, S. Lucia, vom gleichen Architekten stammt. Ihr ursprünglicher Bau wurde 1912 errichtet, 1945 durch Bomben zerstört, 1947 wieder aufgebaut und 1976 dann durch das Erdbeben beschädigt (wohl sehr stark). Burelli hat sie dann komplett umgebaut. Der Architekt, Prof. in Venedig, in Udine, in Berlin und Dortmund (eine sehr bunte Mischung an Lehrorten), hat der Kirche vier verschiedene Antlitze verpasst, aber keines scheint zum anderen zu passen.

S.Lucia, Frontansicht – offen und dem Licht zugewandt

Da die Zeit drängte, konnte ich die Kirche nicht betreten. Ich bin aber schon mit dem Äußeren sehr zufrieden. In mir geht der Gedanke nun um: wie kann man mit zwei so starken und verschiedenen zeitgenössischen Kirchen neue Zentren des Wohnens und Lebens für die Menschen bauen?

San Daniele – ein Besuch kurz vor dem 35. Schinkenfest

Ausflug nach S.Daniele, in die Stadt mit den bekannten Schinken. Der Bus braucht etwa eine Stunde und wir haben den Besuch auf den Nachmittag gelegt. Für den Nachittag war mal wieder Regen angesagt.

Die Busfahrt über Land war angenehm; hinter Udine weiteten sich die Täler, es zeigten sich entlang der Straßen ausgedehnte Weingärten. Der Bus hielt immer mal zwischendurch, hatte aber keine optische Haltestellenanzeige. Wir näherten uns S.Daniele, konnten Hinweisschilder sehen und eine Stadt am Berghang. Eine Frau machte bei einer Abbiegung den Fahrer darauf aufmerksam, dass irgend etwas gesperrt sei – so fühlte ich den Inhalt ihrer kurzen Konversation. Sie setzte sich nach vorn, in die erste Reihe schräg hinter dem Fahrer. Sie dirigierte ihn offensichtlich, er fuhr, so schien es (und so war es auch) wieder aus der Stadt heraus (S.Daniele ist recht klein). Auf den beiden Stadtplänen, die wir vor Beginn der Fahrt konsultierten, war die Endstation (wie wir annahmen) deutlich eingezeichnet, die Piazzale IV. November. Die Sperrung der Innenstadt wegen des bevorstehenden Schinkenfestes aria di festa erschien uns als möglicher Grund für eine kleine Verlegung, aber der Bus fuhr wieder in die Landschaft, durch Dörfer, die neue Namen trugen. Die noch verbliebenen Mitfahrer kannten offensichtlich die Strecke, sie drückten einer nach dem anderen die Halteknöpfe. Also konnten wir noch nicht an der Endstation sein. Aber dann hatten wir doch ein mulmiges Gefühl. B. fragte den Fahrer. Er antwortete, an der Haltestelle für die Piazzale seien wir vorbei, aber er würde uns wieder zurück bringen. Er holte uns nach vorne, damit wir einen schönen Ausblick hatten und kurvte durch die Landschaft. Es stieg niemand mehr aus und niemand mehr ein. An einer angedeuteten Haltebucht hielt er. Es gab um uns herum nicht mal ein Städtchen. Wir wollten aussteigen. Nein, meint er. Nach einer nur durch Augenblicke gefühlt verlängerten Pause drehte er und fuhr zurück, wieder durch grüne Landschaftsausschnitte und näherten uns erneut der Stadt auf dem Hügel.

Richtungsweiser

An einer unscheinbaren Ecke, neben einer Ziegelsteinmauer hielt er und erläuterte: Hier, wo wir ausstiegen, sollten wir für die Rückfahrt auch wieder einsteigen. Vage Vorstellungen, dass wir hier schon auf dem Hinweg mal vorbeigekommen waren, blieben unsere Anhaltspunkte. Es gab einen Sportplatz gegenüber und ein Straßenschild, das irgendwie auf S.Daniele verwies. Wir stiegen steil bergan und spürten dadurch deutlich die Hitze des noch frühen Nachmittags.

Identität stiftende Feierkleidung

S.Daniele zeigte sich als Stadt in Erwartung. Entlang der Straßen zum Dom standen weiße Partyzelte. Es schien, als ob man die Osmanen, die durch die Festung von Palmanova in Schach gehalten wurden, zu einem Umtrunk erwartete. Bierbänke und -tische waren vor und neben den Zelthüllen gestapelt, meist noch in durchsichtige Plastikbahnen gehüllt. Der Dom, um den die wichtigste Straße von S.Daniele führt, versprach ein Refugium zu sein. Doch innen wirkte er grau und wenig einladend.

Kopf der Fortuna

Vier Tugendstatuen an vier mächtigen Pfeilern wurden mir zum Lichtblick. Sie waren, nach meinem Empfinden, der perfekte Ausdruck unserer 1950er Jahre – Nachkriegsasketen, mit nachdenklichen Körperhaltungen von Unbeweglichkeit und Abwarten. Sie erinnern an Gerhard Marcks‘  Bronzetüren.

S.Daniele war konzentriert auf die Festeinrichtungen. Daneben schienen die Häuser und das Alltagsleben in tiefen Schlaf zu versinken. Da fielen die ersten Tropfen des angekündigten Regens. Wir gingen zur provisorischen Bushaltestelle zurück, warteten mit mehreren Frauen, die sich entlang der Mauer verteilt hatten, auf den Bus der Regenschutz versprach. Er kam und brachte uns zurück ins trockene Udine.

 

Prudentia, die Klugheit

 

Was mit uns auf der Hinfahrt geschah ließ sich auch per Internetrecherche an Hand der Fahrpläne nicht mehr recherchieren. Unser Busfahrer war in seinem Zeitplan geblieben, aber wir fanden nur eine mögliche Pause in S.Daniele, aber keine weiteren Haltepunkte, die er aber tatsächlich angefahren hatte.

Fünf große Schinken-Produktionen sind an den Rändern von S.Daniele angesiedelt. Schweineställe sahen wir nicht und rochen auch keine. S.Daniele zeigte sich als saubere Schinken-Stadt.

Ausflug nach Pordenone

.Eine halbe Stunde mit der Bahn in westlicher Richtung Richtung Venedig. Bei der Rückfahrt stand als Zielbahnhof Trieste an der Anzeigentafel.

Der Blick aus dem Zugfenster unterschied sich kaum von den Bildern, die ich von anderen italienischen Zugstrecken in Kopf und Kamera gespeichert habe. Wenige Minuten nach dem Verlassen des Bahnhofs kommen die ersten Betonruinen von aufgegebenen Produktionsanlagen. Man kann nur selten erraten, was in den Gerippen vor Jahren oder Jahrzehnten produziert oder zusammengeschraubt wurde. Dann kommt die agrarische Landschaft, hier vor allem ordentliche Weinrebenreihen. Im Friaul unterbricht dann gelegentlich ein breites, in dieser Jahreszeit nahezu trockenes Flußbett aus weiß schimmernden Kieseln das Grün. Zur Zeit der Schneeschmelze muß es ein tobender Wasserteppich sein, der sich gen Süden wälzt. Jetzt ist es eine temporäre Wüste.

Der Fluß Taliamento im sommerlichen Bett

Der Bahnhof von Pordenone sieht wie jeder andere italienische Bahnhof aus. Er verrät nichts von der Stadt. Aber zwischen Bahnsteigen und Ausgang vollführt ein gegossener Bersaglieri einen kleinen Horn-Tanz.

Tanz mit Horn im Bahnhofsgebäude

Auch der Bahnhofsvorplatz zeigt noch kein eigenes Gesicht. Wenn man nach den Ausgängen einfach die Straße überquert , führt die Via Mazzini den Besucher zur Piazza Cavour, dem Verteilerring der Stadt, von dort in den Corso Garibaldi oder entgegengesetzt in den Corso Vittorio Emanuele II, die via Roma oder die Viale Martelli – alles Namen, die mit der Bildung eines einheitlichen italienischen Staates zu tun haben. Die Namen fassen Guerillakämpfer (Wikipedia) wie Garibaldi, Partisanen des 2. Weltkrieges wie Mazzini, den ersten italienischen König und seinen Ministerpräsidenten zusammen. Allein die Straßennamen halten die Besucher in der nationalen Erregung des Risorgimento gefangen.

Wir suchten den Weg in die ältesten Ecken der Stadt durch die kleinen Parks am Rande. So kommt man gewissermaßen durch die Hintertür in die Geschichte, nämlich durch die Gegenwart.

Das alte Rathaus und der Dom San Marco verweisen darauf, dass Venedig über lange Zeiten hin der Regent der Gegend war.

Reste früher Schönheit, hier noch gut erhalten

Nicht nur Wikipedia weist auf die malerische Altstadt hin, sondern natürlich auch die Touristenförderung mit ihren großformatigen Werbeblättern. Tatsächlich handelt es sich dabei vor allem um eine leicht geschwungene Straße, die heute den Namen von Victor Emanuele II trägt. Man sieht dort historische Fassaden mit Resten von Wandbemalungen – und somit von verpassten Restaurierungen. Die Texte des Informationsblattes bemühen sich um viele Details, vermitteln aber kein Verständnis für die historische Situation.

Die Palazzi am Corso Vitt. Emanuele II gehörten dem Landadel, über dessen Verhältnis zur Serenissima in Venedig der Jurist, Schriftsteller und Ratgeber Garibaldis, Ippolito Nievo ,1858/61 in seinen romanhaften Erinnerungen „Bekenntnisse eines Italiener“ schrieb: „Doch war das Los der armen Gemeinden im Würgegriff der umliegenden schloßherrlichen Gerichtsbarkeiten schon nicht heiter, so sah es mit den Befugnissen ihrer Oberhäupter gegenüber den Grundherren noch schlimmer aus. San Marco war beliebt, aber aus der Ferne und mehr des Pompes wegen; und im Grunde lag der Republik, vor allem im Friaul, die Ergebenheit des Adels zu sehr am Herzen, als daß man ihm ernsthaft mit dem Schreckgespenst der Kommunalgerichtsbarkeit gedroht hätte.“

Die heute zu bewundernden Palazzi waren damals die Prestigewohnungen der Profiteure der armen Landbevölkerung.

Der Palazzo der Fam. Mantica, die das Theater neben dem Dom in Udine besaßen (s. Vivaldi-Konzert)

Ich empfinde eine historisch zutreffende Information nicht als politische Agitation, sondern als Hilfe zum Verständnis der aktuellen und geschichtlichen Situation.

Pordenones historisches „Stadtleben“ endete noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts etwa an den Grundstücksgrenzen der Palazzi; man kann Reste der Ziegel gemauerten Stadtmauer noch heute hinter den Gärten sehen.

Das zeitgenössische Pordenone unterscheidet sich nicht von vielen italienischen Städten; man baut modern, aber man integriert nicht Altes und Zeitgenössisches. So fehlt der Stadt ein Einheit stiftendes Bild.

Repräsentation der Gegenwart: Provinzial Verwaltung in Pordenone

Wochenanfang bei der Porta Aquileia

Bei der Porta Aquileia

Ein nur kurzer Montagseinkaufsgang, kombiniert mit einem Besuch der Kirche Beata Vergine del Carmine. Eine geschickte Kombination von wenigen skulpturalen Elementen (vor allem natürlich den hochaufgebauten Altar) und viel barock-römischer Malerei. Der Kirchenraum ist als Raum nur durch die Malerei strukturiert, die für sich ein Tiepolo-Verschnitt ist.

Der Kirche schräg gegenüber ist eine fast auschließlich gläserne Hausfront mit weißem Mauerwerk oder gar Metallabdeckungen und weiß-grauen Fenstervorhängen eine auffallende Unterbrechung der ansonsten sehr italienischen Straßenfront.

Wenig Schritte von der Kirche entfernt steht plötzlich ein Mann neben mir, der einen blauen Müllbeutel leicht öffnet und allerlei technischen Schnickschnak anbietet: ein ausziehbares dünnes Stöckchen oder einen Handventilator. Vier weitere Angebote macht er mir noch, aber ich habe nicht mehr hingeschaut. Ich will ja nichts kaufen und ihn auch nicht in Erwartung der Möglichkeit wiegen.

In den Käseladen, in dem wir Ricotta kaufen, kommt eine ältere Frau, gebückt und sich auf einen Stock stützend wie in alten Kinderbüchern gern die Hexe dargestellt wird. Nach ihr schreitet gemessen ein hell-struppiger Hund hinein. Wieder auf der Straße läuft der Hund vor der gebückt gehenden Frau her und wartet geduldig, wenn er etwa 15 m entfernt ist. Schließlich steht er geduldig, den Kopf zum Frauchen gedreht vor einem Tor, das zwei Hauseingänge trennt und doch vereint.

Auf der gegenüber liegenden Straßenseite geht ein junger Mann, der seinen Rucksack mit Fahrradteilen beschwerte; zwei kleine Räder sind sichtbar, ein Lenker unch Teile des Gestänges. Er geht gemächtlichen Schrittes und beschaut die Fassaden der Straße, die von einem der übrig gebliebenen Stadttore einwärts führt.

 

Ankunft des Elefanten – Udine

 

Die Einladungs- und Werbekarte für die aktuelle Ausstellung in der Galleria Modotti in Udine spielt ein wenig mit den Assoziationen zu Hannibals Elephanten-Krieg gegen Rom und Primo Levis Seufzer „Christus kam nur bis Eboli“ – zumindest mir kommen sie bei dem Text „Die Geschichte des Elefanten, der endlich in Udine ankam“ (La storia dell‘ elefante che arrivò fino a Udine).

Tina Modotti (1896 – 1942), die Fotografin mit linken und anarchistischen Freunden und Tendenzen, die aus dem Friaul nach Amerika ging und dort zu einer engagierten und anerkannten Fotografin wurde (auch zu einer Freundin von Frida Kahlo),wird in ihrer Geburtststadt mit einer städtischen Galerie geehrt, dem ehemaligen Fischmarkt – was man nicht anrüchig finden muß.

Galleria Modotti

In der Galleria Modotti ist nun ein großer, vielleicht sogar riesiger Elefantenkopf ausgestopft präsentiert. Sein Träger wurde 1939 in Kenia von Italo Balbo geschossen, der von 1929-1933 Luftwaffenminister im faschistischen Italien war. Er baute die italienische Luftwaffe auf und pflegte zu Hermann Göring freundschaftlichem Kontakt. Balbo war im 1. Weltkrieg Alpin Offizier, studierte anschließend Sozialwissenschaften und wurde dann Bankangestellter – und war offensichtlich auch ein Mann, der sich gern und gekonnt in Szene setzte (entsprechende Fotos findet man im Internet). 1934 bis 1940 war er Generalgouverneur in Italienisch Libyen und unterstrich seinen Männlichkeitsstatus mit dem damals gern benutzten Mittel, sich als Großwildjäger zu präsentieren. Eine Erläuterungstafel zeigt Fotos von Balbos Safari und je ein Foto vom US-Präsidenten Roosevelt und dem ebenfalls die Großwildjagd liebenden internationalen Autor Ernest Hemingway.

Der gesamte Kopf wurde dem Elefanten wohl gleich nach seinem Tod genommen und vor Ort soweit präpariert, dass er erhalten blieb. Das Präparieren hatte der Bergsteiger, Geologe und Kartograf Ardito Desio (1897-2001) in Tripolis vorgenommen oder überwacht. Desio hielt sich um diese Zeit zu geologischen Untersuchungen in Libyen auf (er hatte in Libyen Erölquellen gefunden).

Der Großwildjäger und Generalgouverneur Balbo starb am 28. Juni 1940 bei Tobruk, kurz nach der Kriegserklärung Italiens an Frankreich und Großbritannien und vor dem Versuch einer italienisch-deutschen Armee, Tobruk zu erobern. Italo Balbo war gegenüber Mussolini immer für einen Kriegseintritt an der Seite Englands eingetreten.

Sein Flugzeug wurde bei Tobruk „nach offizieller Darstellung …durch Eigenbeschuss von der italienischen Flugabwehr abgeschossen.“ [Wikipedia dt.17.06.19]

Der Kopf des Elefanten verblieb in Tripolis, wohl bis 1955. Dann nämlich vermachte die Wittwe Emanuela Balbo Florio den Kopf dem Museum Udine. Er wurde auch im Museum ausgestellt, landete aber später im Depot. Bevor er nun ins friaulische Naturkundemuseum Udine einziehen soll, wird er in voller Größe und mit seiner Geschichte (allerdings ohne eine Reihe der von mir zitierten Informationen) den Einwohnern präsentiert.

Die Tafeln die sich um den von vorne „riesig“ erscheinenden Kopf gruppieren, sind nüchtern im Ton gehalten, haben aber interessante Lücken. Mir kommt es vor, als ob hier unter der Hand faschistische Großmachts-Wunschbilder neutral an die Bevölkerung vermittelt werden sollen (bei einer überwiegend rechts-populistischen Stadtregierung).

Über die Dezimierung der Elefantenpopulationen in Afrika ist in den vergangenen Jahren immer wieder kritisch berichtet worden; nach Udine wird aber der Kopf wie eine „Trophäe“ (zurück)geholt.

Es ist ein eindrücklicher und beängstigend großer Kopf.

Ich habe selbst neben (Zirkus)Elefanten gestanden und habe sie sehr viel anders empfunden als diesen präparierten Kopf, mit seinem halb erhobenen Rüssel. Dass die beiden Stoßzähne nicht mehr original sind und sich deshalb auch der Eindruck des Kopfes verändert, spielt eine nur untergeordnete Rolle. – Der Abschuß dieses Elefanten wird mittels seiner Präsentation (und trotz der sachlich formulierten Erläuterungen) zu etwas Heroischem stilisiert. Mir erscheint das nicht mehr unserem Empfinden angemessen.

Aquileia – historische Zeugnisse verstreut in der Landschaft

Ausflug nach Aquileia, die Straße nach Grado ans Meer, strickt nach Süden, mit dem Linienbus. Jeder Weg braucht eine Stunde, die Entfernung beträgt um 45 km pro Strecke.

Wir wollten uns nicht hetzen am Morgen und auch die Zeit der Mittagshitze sinnvoll verbringen, deshalb nahmen wir erst den 11.00 Uhr Bus. Zum high noon, also um 12.00 Uhr waren wir vor Ort. Um 17.10 Uhr nahmen wir den Retour-Bus und waren kurz nach 18.00 Uhr wieder am Busbahnhof, zwei Ecken von unserer Ferienwohnung entfernt.

Vom Tag fühlten wir nach der Rückkehr nur eins: totale Erschöpfung.

Der gesamte Tag versank in diesem Gefühl. Nach viel Wasser und einer Stunde auf dem Bett liegen kamen einzelne Bilder wieder. Das Betrachten der Fotos ein wenig später brachte den Tag wieder zurück.

Die Kathedrale mit dem römischen Späherturm

 

Es war ein voller Tag, mit vielen vereinzelten Eindrücken, die sich in andere Mosaike drängen werden. Gerade weil es ein Tag der Mosaike war. Vor dem ersten Blick auf Mosaike aus dem 4. Jahrhundert stiegen wir aber erst einmal etwa 130 alte, hohe, glatt geschliffene Steinstufen zu den Glocken der Basilika von Aquileia hinauf. Es war anstrengend und man mußte immer mit „Gegenverkehr“, herabkommenden Besuchern, rechnen, dann hieß es, sich in eine Fensternische quetschen oder sich dehnen und recken wie ein Hering. Wir hatten Glück, es gab um die Mittagszeit nicht viele Besucher, die sich die Welt von oben anschauen wollten. Auf den Ausblick kann man auch verzichten, aber der Auf- und Abstieg ist ein Erlebnis des eigenen Körpers und der eigenen Disziplin (vor allem in fortgeschrittenem Alter).

Der Kirchturm war ursprünglich, zur römischen Kaiserzeit, ein militärischer Aussichtsturm, denn Aquileia war das Winterlager für die römischen Legionen, die zu den Franken und Germanen zogen.

Kopf eines Kriegers in einem umlaufenden Mauerband

Bei der Rückfahrt nach Udine wurde mir die sowohl beschützende, als auch die bedrohte Lage des Friaul deutlich: das helle, leicht von der Sonne eingetrübte Licht zeigte im Osten die alpinen Bergketten, so wie sie Hodler auf Wänden und Leinwänden gemalt hat. Vom Norden befürchteten die Römer Einfälle unterschiedlichster Barbarenstämme und Jahrhunderte später befürchteten die Venezianer vom Osten her Einfälle derTürken bis zu ihrem Sieg in Lepanto, der zu einer längeren Phase gegenseitiger Akzeptanz führte.

Der Kirchturm also war ursprünglich militärischer Ausguck.

Vor dem Gang ins kühle Museum gingen wir die Hauptstraße in entgegengesetzter Richtung entlang zu einer Reihe von Säulen, die die ursprüngliche Lage des Forums markieren. Ein Drahtzaun hält die Betrachter auf Distanz. Die recht guten Informationsfaltblätter des Friaulischen Touristenverbands beschreiben, was man längst nicht mehr sehen und sich auch nicht vorstellen kann: den Treffpunkt, an dem man Geschäfte machen konnte, Politk erlebte und Recht sprach. Was man sieht, ist eine saubere Reihe unvollständiger Säulen – eine saubere Trennungslinie in der Landschaft.

Ein Foto gemacht und wieder umgekehrt, um ins Museum zu gehen. Das Museum betritt man durch ein altes Eisentor, nach dem Blick auf drei Pyramiden aus römischen Urnen, durch eine neue Glasarchitektur. Das vermittelt ein positives Gefühl, denn der alte Eingang (den ich erst später entdeckte) trägt deutliche Spuren von Alterung.

Ein sehr realistisches Portrait von Mutter und Kind als Grabschmuck

Das Museum breitet eine schöne Sammlung aus. Aber man muß sich vor Augen halten, dass es Fundstücke sind, die aus Gräbern stammen oder in der Erde gefunden wurden. Alles sind Einzelstücke, für die erst noch ein Zusammenhang gefunden werden muß. Das römische Leben, das im Museum gezeigt werden kann, ist Erinnerung von Menschen vor 2.000 Jahren und bruchstückhaft in Erscheinung und Erkenntniswert. Erkenntnis wächst nur aus eigenem Wissen oder aus Fragen.

Souvenirs und Spielsteine aus römischen Gräbern

p.s. Die Basilika mit ihren sehr eindrucksvollen Mosaiken habe ich hier ausgelassen, obwohl der Aufenthalt in ihren unterscheidlichen Ebenen die meiste Zeit und Aufmerksamkeit bekam. Es sind römische Mosaiken, die sich im 4. Jahrhundert sehr gut christlich interpretieren ließen. Der Boden, über den man auf Glasstegen geht, ist wie der „Grund-satz“ zu unserer Kultur: bildhaft und doch nicht leicht zu verstehen und einzuordnen. Ich komme vielleicht darauf nochmals zurück.

Draußen vor der Tür – eine Ausstellungseröffnung mit Wartenden

Einen Tag nach dem Vivaldi-Konzert Besuch wurde in der Casa Cavazzini, dem städtischen „Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst“ in Udine eine Ausstellung eines heimischen Künstlers eröffnet. Das großes Transparent an der Wand des zentral gelegenen Hauses zeigt eine schwungvoll skizzierte asiatische Tusche-Landschaft. Wir machten uns zeitig auf den Weg, doch bereits deutlich vor der Öffnungszeit waren die Türen verschlossen und es hatten sich Gruppen von Wartenden im Arkadenbereich gebildet. Gelegentlich wurde die Eingangstür geöffnet und eine einzelne Person oder einige wenige durften eintreten. Alle waren „gestandene“ Erwachsene, die mit ihrem deutlich sichtbaren Alter auch Gelassenheit verströmten. Man stand, redete und wartete. Wir warteten auch, vor allem, weil wir nicht wußten, warum die Türen zur Vernissage nicht geöffnet wurden. Eine Frau in der Mitte ihrer 70er Jahre eröffnete ein Gespräch mit uns, indem sie darauf verwies, dass mit den „wichtigen Leuten“ die Räume vermutlich schon gefüllt wären. „Auch der Bürgermeister steht noch draußen“, unterstrich sie die auch ihr unverständliche Situation und schob noch nach, dass sie die Künstlerwitwe Maria gut kenne, ohne deren intensives Engagement diese Ausstellung nicht zustande gekommen wäre.

Wartende vor der Zanussi Ausstellung zur angegebenen Eröffnungszeit

Sehr zögerlich entfernten sich die Wartenden von der Eingangstür. Auch wir verabschiedeten uns zu einem kleinen Stadtrundgang und kehrten erst eineinhalb Stunden später zurück. Die Türen waren frei und man ließ uns diesmal freundlich ein. Vier Räume im oberen Geschoß waren mit der Ausstellung bestückt, die weiteren Räume enthielten die städtische Sammlung und waren für den Eröffnungtag geschlossen, denn dafür hätte man Eintritt zahlen müssen.

Paolo Zanussi, der präsentierte Künstler (1936 – 1997) war studierter Jurist und autodidaktischer Künstler. Den kurzen biographischen Zeilen im Ausstellungsfaltblatt konnte man entnehmen, dass er in den 1970er bis 90er Jahren ausgiebig reiste. Zanussi malte locker farbige Landschaften und Stadtportraits, in die er gern karrikaturistisch fliehende Mädchen-Akte positionierte. Die überwiegende Zahl der Zeichnungen und kleinformatigen Malereien sind erzählerisch und unterhaltsam.

catch as catch can mit Doppeldecker, Udine 2993

Zanussi war kein zeitgenössischer Neuerer, er war jemand, der mit Farben und Strichen seine Zeitgenossen unterhalten wollte und die Welt in einem lebenswerten Licht erstrahlen ließ. Sehr wenige Zeichnungen nur deuten darauf hin, dass er auch ein kritischer Zeitgenosse war.

Presentile Autoritá, 1966

Seinen Lebensunterhalt hat er wohl kaum mit dieser Kunst verdient. Einnahmen und Erfolge kamen wohl überwiegend aus dem Werbebereich. Für Pirelli und Jägermeister zeichnete er und fast alle großen europäischen Zeitungen schmückten sich mit seinen Skizzen und Illustrationen.

Ein Stadtgespräch ist diese Ausstellung sicher, mittlerweile wohl ein eher abgehobenes, an dem sich alle Parteien beteiligen können.

Ein märchenhaftes Abendmahl, 1978

Vivaldi Furioso – ein Konzert in Udine

Durch ein zufällig mitgehörtes Gespräch in der örtlichen Touristen-Information ließen wir uns anregen, am Abend in eine kleine Kirche neben dem Dom zu einem Vivaldi-Konzert zu gehen. Um sicher zu sein, dass wir die Kirche nicht verfehlten, gingen wir direkt zum Dom und umrundeten ihn. Wir brauchten dabei nur einer rassigen string-Musik zu folgen und fanden den Kircheneingang. Die italienische Formation „I Virtuosi Italiani“ um den Geiger Alberto Martini (2009 Debut in der Carnegie Hall, NY) erprobte den Raumklang und feilte an letzten heiklen Passagen. Dabei ging es wild durchs abendliche Programm. Es wurden immer nur kurze Passagen gespielt, so als ob man Musikfetzen in die Luft warf. Von der Ruhe und Behutsamkeit, die man gern mit den „Vier Jahreszeiten“, dem einzigen „Vivaldi“, den nahezu jede*r kennt, hatte das alles nicht viel zu tun. Beim Zuhören fragte ich mich, wie Vivaldi mit seiner Musik die Geräusche der Geschwindigkeit des 19. Jahrhunderts in seiner Musik schon vorformen konnte. Ich hörte lauter Eisenbahnen und sah nur Violinen, Viola und Basso continuo. Die gespielten Passagen ließen Geräusche und Geschwindigkeiten vor mir entstehen. Es war aufwühlend und ich freute mich auf das abendliche Konzert.

I Virtuosi Italiani, im 30. Jahr ihres Bestehens

In der Touristinformation hatte die Informantin dem Radfahrerpaar ein „Gehen sie nicht zu spät“ mit auf den Weg gegeben.

Als wir etwa 20 Minuten vor Beginn des abendlichen Konzerts die Kirche betraten, waren die sieben Bankreihen schon gut gefüllt. Die Musiker erschienen nun im Frack, nicht mehr in Freizeitkleidung wie bei der nachmittäglichen Probe. Zu Beginn des Konzerts waren alle Plätze besetzt und etwa 20 Interessierte standen noch im Eingangsbereich.

Das Programm umfasste sieben einzelne Stücke mit den Bezeichnungen sinfonia, concerti und einer sonata, mit jeweils drei Sätzen und alle vor der Umwidmung des Auffürhungsortes von einem früheren Theater in die heutige „Chiesa della Beata Vergine della Purità“ komponiert. Das ist nicht von Bedeutung, aber ein feines Spiel mit vergangenen Bezügen.

Vivaldi war Priester und während er die Stücke des Programms komponierte, war die Konzertkirche (Oratorio) noch ein Theater, das der damalige Patriarch Daniele del Fino nicht gern direkt neben den Mauern des Doms leiden mochte. Der ehemalige Theaterbesitzer, der friaulische Graf Mantica, wurde zum Verkauf gedrängt, das Theater geschlossen, umgebaut und vom damals aktuellen Vorzeigekünstler Tiepolo mit Malereien geschmückt (wurden während des Konzerts von Zuhörern gern mit Handy fotografiert).

Die Stückauswahl umfasste 35 Jahre von Vivaldis 63 Lebensjahren; die erste gespielte Sinfonia entstand im Jahr vor seinem Tod in Wien 1741. Einen Teil daraus hatten wir schon bei der nachmittäglichen Probe gehört; jetzt erschien mir die überwältigende und treibende Kraft der Töne des Probenspiels als der Puls der Musik, der das Leben des Publikum ergänzte. Publikum und Musik waren Teile des gemeinsam gefüllten Raums und sie modulierten sich gegenseitig. Was ich zuvor mit Zuggeräuschen assoziiert hatte, hörte ich nun als Zwiegespräch, das sich klar und deutlich aus der Musik mit dem Publikum ergab. Das Jagen der Tempi erschien nun als einsamer Sprint, der in die Extase mündet und in einem fast dramatischen Abfall endet. Versteht man Vivaldis Musik als beständigen Dialog mit Menschen, Zeit und Dynamik, wird die für ihn typische Ritornell-Form (das intensive „Schrum-Schrum“ kurzer oft wiederholter Tonfolgen) zum Puls des Lebens. Vivaldis Musik spricht nicht nur mit dem Publikum, sondern ringt auch mit ihm – denn das Publikum hatte im Jahr der Eingangskomposition (1740) dem Komponisten seine Gunst entzogen. Vivaldi ging verarmt nach Wien, wo er bald darauf starb.

Der Wiener Gerhard Fischer hat in einer Novelle „Antonio Vivaldis letzter Sommer, Wien 1741“ Leben und Werk eng miteinander verwoben: „Die Kunst Vivaldis hält eine Komplizenschaft mit der Lungenkrankheit Asthma. Erkrankungen der Lunge machen Fieber und müde. So dehnt sich Vivaldis ganzes Leben zwischen Beschleunigung und Verlangsamung des Atems“ [www.vivaldi-daedalus.eu/vivaldi.html – das Zitat fand ich erst beim Recherchieren am nächsten Tag]

Wenn mal einmal von den „Vier Jahreszeiten“ wegdenkt und erfährt, dass Vivaldi eine „Orlando Furioso“ Oper geschrieben hat, die erstmals 1727 in Venedig, dann nach einer 250jähigen Pause erst 1979 Verona und wieder zehn Jahre später in San Francisco (experimentell) aufgeführt wurde, erahnt man geistig-kulturelle Zusammenhänge, die den Komponisten in unsere eigene Zeit hinein stellen, ohne seine Wurzeln aus dem Übergang von der Renaissance zur Moderne herauszureißen.

I Musici Italiani“ haben mir mehr als nur ein „furioses“ Konzerterlebnis vermittelt, sie haben mich Wege aus der Vergangenheit in die Gegenwart, also: in unser Leben, finden lassen.

Udine: Friedhofsbesuch – ein sonntäglicher Spaziergang

Es ist sonntäglich ruhig; der Unterschied der Tage ist deutlich hörbar. Die Kinder auf dem Weg zur Schule fehlen, die frühen Busse und die übrigen Autogeräusche. Statt dessen rufen aus der „Ferne“ der Innenstadt Tauben, genauer: ich höre nur das Gurren einer Taube. Gesehen habe ich in der Stadt tatsächlich keine Taube. Hat Udine keine Taubenplage?

Erst gegen 9.00 Uhr pfeifft ein einsamer Vogel in der Nähe.

Am späten Nachmittag, nach dem obligaten Mittagsschlaf, zum großen Friedhof gegangen. Auf dem Weg dorthin, der schon auf dem Stadtplan kompliziert wirkte, standen wir ratlos an einem Straßenende und rätselten, ob wir links oder rechts gegehen müßten. Ein junges Paar mit Kinderwagen passierte unseren Standort und der Mann kam nach wenigen Schritten zurück und bot seine Hilfe an. Der Stadtplan verwirrte ihn ebenfalls spürbar; er wies in verschiedene Himmelsrichtungen und nannte Straßen, aber unseren Standpunkt fand er auf dem Plan nicht. Wo der Friedhof ist, wurßte er aber und erklärte uns mehrmals, wie wir zu gehen hätten. Vielleicht hatte er kein Vertrauen in unsere Aufnahmefähigkeit oder in seine Erklärkünste, also brachte er uns an die nächste, entscheidende Straßenkreuzung. Seiner Frau gab er den Haustürschlüssel und ließ sie mit dem erst 10 Tage alten Baby allein. Es wirkte winzig, machte aber mit einem üppigen Haarschopf viel wett. Auf dem Weg bis zur nächsten Straßenecke erzählte er, seine Frau sei Italienerin, er käme aus Rumänien, und eine seiner Omas aus Budapest. Weitere Zahlen gingen ein wenig durcheinander: ob er schon zwölft Jahre hier ist und insgesamt 25 Jahre lang gelernt hat, weiß ich nicht. Er sprach ein klangvolles Italienisch und arbeitet als „constructor“, vermutlich als Maurer oder etwas ähnlichem. Er wirkte sympathisch und sprach während des Weges ununterbrochen. Er brachte uns an einen Kreisverkehr und wies uns den richtigen Weg.

Blick von Grab zu Grab

Wir erreichten den Friedhof eine Stunde vor Toresschluß. Eindrücklich war das von dicken Mauern umgebene Innenareal, in dem sich eine regelrechte Totenstadt befand; jedes Grab war ein Haus im Gewandt der Moderne der Nachkriegszeit. Unter den Arkaden der Mauern befanden sich alte Familiengräber, in die Mauer oder in den Boden eingelassen.

 

 

 

 

Totenbungalow

Erdbestattungen im üblichen Stil, wie wir es von unseren Friedhöfen kennen, sah ich nicht. Erst nach der Umrundung des Friedhofareals, sah ich eine Öffnung zu einem weiteren Friedhofsteil. Dort befanden sich dann die „normalen“ Columbarien und die Erdgräber – und eine geteerte Straße öffnete diesen Bereich auch für Autos mit gebrechlichen Besuchern (wir trafen gleich auf ein solches Beispiel).

 

Grabmal einer Handwerker Familie, mit ausgebreiteten (metallenen)Werkzeugen an der rechten Seite

 

Familiengrab mit Portrait eines im WK 1 gefallenen Soldaten und einer Schwester (?), die ins 21. Jahrh. lebte

Der Rückweg führte uns durch unindividuelle, typisch italienische Wohnbebauungen und einen kleinen Park, der wie ein Pasolini-Idyll wirkte. Wir näherten uns von Westen der historischen Stadt und machten in einer unansehnlichen Straße einen kurzen Stopp, weil ein Schaufenster ein schönes farbiges Speiseeis-Angebot ausbreitete. Das Eis war schmackhaft und die Pause belebend. Nach drei weiteren Ecken waren wir „zu Hause“.