Durch ein zufällig mitgehörtes Gespräch in der örtlichen Touristen-Information ließen wir uns anregen, am Abend in eine kleine Kirche neben dem Dom zu einem Vivaldi-Konzert zu gehen. Um sicher zu sein, dass wir die Kirche nicht verfehlten, gingen wir direkt zum Dom und umrundeten ihn. Wir brauchten dabei nur einer rassigen string-Musik zu folgen und fanden den Kircheneingang. Die italienische Formation „I Virtuosi Italiani“ um den Geiger Alberto Martini (2009 Debut in der Carnegie Hall, NY) erprobte den Raumklang und feilte an letzten heiklen Passagen. Dabei ging es wild durchs abendliche Programm. Es wurden immer nur kurze Passagen gespielt, so als ob man Musikfetzen in die Luft warf. Von der Ruhe und Behutsamkeit, die man gern mit den „Vier Jahreszeiten“, dem einzigen „Vivaldi“, den nahezu jede*r kennt, hatte das alles nicht viel zu tun. Beim Zuhören fragte ich mich, wie Vivaldi mit seiner Musik die Geräusche der Geschwindigkeit des 19. Jahrhunderts in seiner Musik schon vorformen konnte. Ich hörte lauter Eisenbahnen und sah nur Violinen, Viola und Basso continuo. Die gespielten Passagen ließen Geräusche und Geschwindigkeiten vor mir entstehen. Es war aufwühlend und ich freute mich auf das abendliche Konzert.

I Virtuosi Italiani, im 30. Jahr ihres Bestehens
In der Touristinformation hatte die Informantin dem Radfahrerpaar ein „Gehen sie nicht zu spät“ mit auf den Weg gegeben.
Als wir etwa 20 Minuten vor Beginn des abendlichen Konzerts die Kirche betraten, waren die sieben Bankreihen schon gut gefüllt. Die Musiker erschienen nun im Frack, nicht mehr in Freizeitkleidung wie bei der nachmittäglichen Probe. Zu Beginn des Konzerts waren alle Plätze besetzt und etwa 20 Interessierte standen noch im Eingangsbereich.
Das Programm umfasste sieben einzelne Stücke mit den Bezeichnungen sinfonia, concerti und einer sonata, mit jeweils drei Sätzen und alle vor der Umwidmung des Auffürhungsortes von einem früheren Theater in die heutige „Chiesa della Beata Vergine della Purità“ komponiert. Das ist nicht von Bedeutung, aber ein feines Spiel mit vergangenen Bezügen.
Vivaldi war Priester und während er die Stücke des Programms komponierte, war die Konzertkirche (Oratorio) noch ein Theater, das der damalige Patriarch Daniele del Fino nicht gern direkt neben den Mauern des Doms leiden mochte. Der ehemalige Theaterbesitzer, der friaulische Graf Mantica, wurde zum Verkauf gedrängt, das Theater geschlossen, umgebaut und vom damals aktuellen Vorzeigekünstler Tiepolo mit Malereien geschmückt (wurden während des Konzerts von Zuhörern gern mit Handy fotografiert).
Die Stückauswahl umfasste 35 Jahre von Vivaldis 63 Lebensjahren; die erste gespielte Sinfonia entstand im Jahr vor seinem Tod in Wien 1741. Einen Teil daraus hatten wir schon bei der nachmittäglichen Probe gehört; jetzt erschien mir die überwältigende und treibende Kraft der Töne des Probenspiels als der Puls der Musik, der das Leben des Publikum ergänzte. Publikum und Musik waren Teile des gemeinsam gefüllten Raums und sie modulierten sich gegenseitig. Was ich zuvor mit Zuggeräuschen assoziiert hatte, hörte ich nun als Zwiegespräch, das sich klar und deutlich aus der Musik mit dem Publikum ergab. Das Jagen der Tempi erschien nun als einsamer Sprint, der in die Extase mündet und in einem fast dramatischen Abfall endet. Versteht man Vivaldis Musik als beständigen Dialog mit Menschen, Zeit und Dynamik, wird die für ihn typische Ritornell-Form (das intensive „Schrum-Schrum“ kurzer oft wiederholter Tonfolgen) zum Puls des Lebens. Vivaldis Musik spricht nicht nur mit dem Publikum, sondern ringt auch mit ihm – denn das Publikum hatte im Jahr der Eingangskomposition (1740) dem Komponisten seine Gunst entzogen. Vivaldi ging verarmt nach Wien, wo er bald darauf starb.
Der Wiener Gerhard Fischer hat in einer Novelle „Antonio Vivaldis letzter Sommer, Wien 1741“ Leben und Werk eng miteinander verwoben: „Die Kunst Vivaldis hält eine Komplizenschaft mit der Lungenkrankheit Asthma. Erkrankungen der Lunge machen Fieber und müde. So dehnt sich Vivaldis ganzes Leben zwischen Beschleunigung und Verlangsamung des Atems“ [www.vivaldi-daedalus.eu/vivaldi.html – das Zitat fand ich erst beim Recherchieren am nächsten Tag]
Wenn mal einmal von den „Vier Jahreszeiten“ wegdenkt und erfährt, dass Vivaldi eine „Orlando Furioso“ Oper geschrieben hat, die erstmals 1727 in Venedig, dann nach einer 250jähigen Pause erst 1979 Verona und wieder zehn Jahre später in San Francisco (experimentell) aufgeführt wurde, erahnt man geistig-kulturelle Zusammenhänge, die den Komponisten in unsere eigene Zeit hinein stellen, ohne seine Wurzeln aus dem Übergang von der Renaissance zur Moderne herauszureißen.
„I Musici Italiani“ haben mir mehr als nur ein „furioses“ Konzerterlebnis vermittelt, sie haben mich Wege aus der Vergangenheit in die Gegenwart, also: in unser Leben, finden lassen.