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Wochenanfang bei der Porta Aquileia

Bei der Porta Aquileia

Ein nur kurzer Montagseinkaufsgang, kombiniert mit einem Besuch der Kirche Beata Vergine del Carmine. Eine geschickte Kombination von wenigen skulpturalen Elementen (vor allem natürlich den hochaufgebauten Altar) und viel barock-römischer Malerei. Der Kirchenraum ist als Raum nur durch die Malerei strukturiert, die für sich ein Tiepolo-Verschnitt ist.

Der Kirche schräg gegenüber ist eine fast auschließlich gläserne Hausfront mit weißem Mauerwerk oder gar Metallabdeckungen und weiß-grauen Fenstervorhängen eine auffallende Unterbrechung der ansonsten sehr italienischen Straßenfront.

Wenig Schritte von der Kirche entfernt steht plötzlich ein Mann neben mir, der einen blauen Müllbeutel leicht öffnet und allerlei technischen Schnickschnak anbietet: ein ausziehbares dünnes Stöckchen oder einen Handventilator. Vier weitere Angebote macht er mir noch, aber ich habe nicht mehr hingeschaut. Ich will ja nichts kaufen und ihn auch nicht in Erwartung der Möglichkeit wiegen.

In den Käseladen, in dem wir Ricotta kaufen, kommt eine ältere Frau, gebückt und sich auf einen Stock stützend wie in alten Kinderbüchern gern die Hexe dargestellt wird. Nach ihr schreitet gemessen ein hell-struppiger Hund hinein. Wieder auf der Straße läuft der Hund vor der gebückt gehenden Frau her und wartet geduldig, wenn er etwa 15 m entfernt ist. Schließlich steht er geduldig, den Kopf zum Frauchen gedreht vor einem Tor, das zwei Hauseingänge trennt und doch vereint.

Auf der gegenüber liegenden Straßenseite geht ein junger Mann, der seinen Rucksack mit Fahrradteilen beschwerte; zwei kleine Räder sind sichtbar, ein Lenker unch Teile des Gestänges. Er geht gemächtlichen Schrittes und beschaut die Fassaden der Straße, die von einem der übrig gebliebenen Stadttore einwärts führt.

 

Ankunft des Elefanten – Udine

 

Die Einladungs- und Werbekarte für die aktuelle Ausstellung in der Galleria Modotti in Udine spielt ein wenig mit den Assoziationen zu Hannibals Elephanten-Krieg gegen Rom und Primo Levis Seufzer „Christus kam nur bis Eboli“ – zumindest mir kommen sie bei dem Text „Die Geschichte des Elefanten, der endlich in Udine ankam“ (La storia dell‘ elefante che arrivò fino a Udine).

Tina Modotti (1896 – 1942), die Fotografin mit linken und anarchistischen Freunden und Tendenzen, die aus dem Friaul nach Amerika ging und dort zu einer engagierten und anerkannten Fotografin wurde (auch zu einer Freundin von Frida Kahlo),wird in ihrer Geburtststadt mit einer städtischen Galerie geehrt, dem ehemaligen Fischmarkt – was man nicht anrüchig finden muß.

Galleria Modotti

In der Galleria Modotti ist nun ein großer, vielleicht sogar riesiger Elefantenkopf ausgestopft präsentiert. Sein Träger wurde 1939 in Kenia von Italo Balbo geschossen, der von 1929-1933 Luftwaffenminister im faschistischen Italien war. Er baute die italienische Luftwaffe auf und pflegte zu Hermann Göring freundschaftlichem Kontakt. Balbo war im 1. Weltkrieg Alpin Offizier, studierte anschließend Sozialwissenschaften und wurde dann Bankangestellter – und war offensichtlich auch ein Mann, der sich gern und gekonnt in Szene setzte (entsprechende Fotos findet man im Internet). 1934 bis 1940 war er Generalgouverneur in Italienisch Libyen und unterstrich seinen Männlichkeitsstatus mit dem damals gern benutzten Mittel, sich als Großwildjäger zu präsentieren. Eine Erläuterungstafel zeigt Fotos von Balbos Safari und je ein Foto vom US-Präsidenten Roosevelt und dem ebenfalls die Großwildjagd liebenden internationalen Autor Ernest Hemingway.

Der gesamte Kopf wurde dem Elefanten wohl gleich nach seinem Tod genommen und vor Ort soweit präpariert, dass er erhalten blieb. Das Präparieren hatte der Bergsteiger, Geologe und Kartograf Ardito Desio (1897-2001) in Tripolis vorgenommen oder überwacht. Desio hielt sich um diese Zeit zu geologischen Untersuchungen in Libyen auf (er hatte in Libyen Erölquellen gefunden).

Der Großwildjäger und Generalgouverneur Balbo starb am 28. Juni 1940 bei Tobruk, kurz nach der Kriegserklärung Italiens an Frankreich und Großbritannien und vor dem Versuch einer italienisch-deutschen Armee, Tobruk zu erobern. Italo Balbo war gegenüber Mussolini immer für einen Kriegseintritt an der Seite Englands eingetreten.

Sein Flugzeug wurde bei Tobruk „nach offizieller Darstellung …durch Eigenbeschuss von der italienischen Flugabwehr abgeschossen.“ [Wikipedia dt.17.06.19]

Der Kopf des Elefanten verblieb in Tripolis, wohl bis 1955. Dann nämlich vermachte die Wittwe Emanuela Balbo Florio den Kopf dem Museum Udine. Er wurde auch im Museum ausgestellt, landete aber später im Depot. Bevor er nun ins friaulische Naturkundemuseum Udine einziehen soll, wird er in voller Größe und mit seiner Geschichte (allerdings ohne eine Reihe der von mir zitierten Informationen) den Einwohnern präsentiert.

Die Tafeln die sich um den von vorne „riesig“ erscheinenden Kopf gruppieren, sind nüchtern im Ton gehalten, haben aber interessante Lücken. Mir kommt es vor, als ob hier unter der Hand faschistische Großmachts-Wunschbilder neutral an die Bevölkerung vermittelt werden sollen (bei einer überwiegend rechts-populistischen Stadtregierung).

Über die Dezimierung der Elefantenpopulationen in Afrika ist in den vergangenen Jahren immer wieder kritisch berichtet worden; nach Udine wird aber der Kopf wie eine „Trophäe“ (zurück)geholt.

Es ist ein eindrücklicher und beängstigend großer Kopf.

Ich habe selbst neben (Zirkus)Elefanten gestanden und habe sie sehr viel anders empfunden als diesen präparierten Kopf, mit seinem halb erhobenen Rüssel. Dass die beiden Stoßzähne nicht mehr original sind und sich deshalb auch der Eindruck des Kopfes verändert, spielt eine nur untergeordnete Rolle. – Der Abschuß dieses Elefanten wird mittels seiner Präsentation (und trotz der sachlich formulierten Erläuterungen) zu etwas Heroischem stilisiert. Mir erscheint das nicht mehr unserem Empfinden angemessen.

Draußen vor der Tür – eine Ausstellungseröffnung mit Wartenden

Einen Tag nach dem Vivaldi-Konzert Besuch wurde in der Casa Cavazzini, dem städtischen „Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst“ in Udine eine Ausstellung eines heimischen Künstlers eröffnet. Das großes Transparent an der Wand des zentral gelegenen Hauses zeigt eine schwungvoll skizzierte asiatische Tusche-Landschaft. Wir machten uns zeitig auf den Weg, doch bereits deutlich vor der Öffnungszeit waren die Türen verschlossen und es hatten sich Gruppen von Wartenden im Arkadenbereich gebildet. Gelegentlich wurde die Eingangstür geöffnet und eine einzelne Person oder einige wenige durften eintreten. Alle waren „gestandene“ Erwachsene, die mit ihrem deutlich sichtbaren Alter auch Gelassenheit verströmten. Man stand, redete und wartete. Wir warteten auch, vor allem, weil wir nicht wußten, warum die Türen zur Vernissage nicht geöffnet wurden. Eine Frau in der Mitte ihrer 70er Jahre eröffnete ein Gespräch mit uns, indem sie darauf verwies, dass mit den „wichtigen Leuten“ die Räume vermutlich schon gefüllt wären. „Auch der Bürgermeister steht noch draußen“, unterstrich sie die auch ihr unverständliche Situation und schob noch nach, dass sie die Künstlerwitwe Maria gut kenne, ohne deren intensives Engagement diese Ausstellung nicht zustande gekommen wäre.

Wartende vor der Zanussi Ausstellung zur angegebenen Eröffnungszeit

Sehr zögerlich entfernten sich die Wartenden von der Eingangstür. Auch wir verabschiedeten uns zu einem kleinen Stadtrundgang und kehrten erst eineinhalb Stunden später zurück. Die Türen waren frei und man ließ uns diesmal freundlich ein. Vier Räume im oberen Geschoß waren mit der Ausstellung bestückt, die weiteren Räume enthielten die städtische Sammlung und waren für den Eröffnungtag geschlossen, denn dafür hätte man Eintritt zahlen müssen.

Paolo Zanussi, der präsentierte Künstler (1936 – 1997) war studierter Jurist und autodidaktischer Künstler. Den kurzen biographischen Zeilen im Ausstellungsfaltblatt konnte man entnehmen, dass er in den 1970er bis 90er Jahren ausgiebig reiste. Zanussi malte locker farbige Landschaften und Stadtportraits, in die er gern karrikaturistisch fliehende Mädchen-Akte positionierte. Die überwiegende Zahl der Zeichnungen und kleinformatigen Malereien sind erzählerisch und unterhaltsam.

catch as catch can mit Doppeldecker, Udine 2993

Zanussi war kein zeitgenössischer Neuerer, er war jemand, der mit Farben und Strichen seine Zeitgenossen unterhalten wollte und die Welt in einem lebenswerten Licht erstrahlen ließ. Sehr wenige Zeichnungen nur deuten darauf hin, dass er auch ein kritischer Zeitgenosse war.

Presentile Autoritá, 1966

Seinen Lebensunterhalt hat er wohl kaum mit dieser Kunst verdient. Einnahmen und Erfolge kamen wohl überwiegend aus dem Werbebereich. Für Pirelli und Jägermeister zeichnete er und fast alle großen europäischen Zeitungen schmückten sich mit seinen Skizzen und Illustrationen.

Ein Stadtgespräch ist diese Ausstellung sicher, mittlerweile wohl ein eher abgehobenes, an dem sich alle Parteien beteiligen können.

Ein märchenhaftes Abendmahl, 1978

Vivaldi Furioso – ein Konzert in Udine

Durch ein zufällig mitgehörtes Gespräch in der örtlichen Touristen-Information ließen wir uns anregen, am Abend in eine kleine Kirche neben dem Dom zu einem Vivaldi-Konzert zu gehen. Um sicher zu sein, dass wir die Kirche nicht verfehlten, gingen wir direkt zum Dom und umrundeten ihn. Wir brauchten dabei nur einer rassigen string-Musik zu folgen und fanden den Kircheneingang. Die italienische Formation „I Virtuosi Italiani“ um den Geiger Alberto Martini (2009 Debut in der Carnegie Hall, NY) erprobte den Raumklang und feilte an letzten heiklen Passagen. Dabei ging es wild durchs abendliche Programm. Es wurden immer nur kurze Passagen gespielt, so als ob man Musikfetzen in die Luft warf. Von der Ruhe und Behutsamkeit, die man gern mit den „Vier Jahreszeiten“, dem einzigen „Vivaldi“, den nahezu jede*r kennt, hatte das alles nicht viel zu tun. Beim Zuhören fragte ich mich, wie Vivaldi mit seiner Musik die Geräusche der Geschwindigkeit des 19. Jahrhunderts in seiner Musik schon vorformen konnte. Ich hörte lauter Eisenbahnen und sah nur Violinen, Viola und Basso continuo. Die gespielten Passagen ließen Geräusche und Geschwindigkeiten vor mir entstehen. Es war aufwühlend und ich freute mich auf das abendliche Konzert.

I Virtuosi Italiani, im 30. Jahr ihres Bestehens

In der Touristinformation hatte die Informantin dem Radfahrerpaar ein „Gehen sie nicht zu spät“ mit auf den Weg gegeben.

Als wir etwa 20 Minuten vor Beginn des abendlichen Konzerts die Kirche betraten, waren die sieben Bankreihen schon gut gefüllt. Die Musiker erschienen nun im Frack, nicht mehr in Freizeitkleidung wie bei der nachmittäglichen Probe. Zu Beginn des Konzerts waren alle Plätze besetzt und etwa 20 Interessierte standen noch im Eingangsbereich.

Das Programm umfasste sieben einzelne Stücke mit den Bezeichnungen sinfonia, concerti und einer sonata, mit jeweils drei Sätzen und alle vor der Umwidmung des Auffürhungsortes von einem früheren Theater in die heutige „Chiesa della Beata Vergine della Purità“ komponiert. Das ist nicht von Bedeutung, aber ein feines Spiel mit vergangenen Bezügen.

Vivaldi war Priester und während er die Stücke des Programms komponierte, war die Konzertkirche (Oratorio) noch ein Theater, das der damalige Patriarch Daniele del Fino nicht gern direkt neben den Mauern des Doms leiden mochte. Der ehemalige Theaterbesitzer, der friaulische Graf Mantica, wurde zum Verkauf gedrängt, das Theater geschlossen, umgebaut und vom damals aktuellen Vorzeigekünstler Tiepolo mit Malereien geschmückt (wurden während des Konzerts von Zuhörern gern mit Handy fotografiert).

Die Stückauswahl umfasste 35 Jahre von Vivaldis 63 Lebensjahren; die erste gespielte Sinfonia entstand im Jahr vor seinem Tod in Wien 1741. Einen Teil daraus hatten wir schon bei der nachmittäglichen Probe gehört; jetzt erschien mir die überwältigende und treibende Kraft der Töne des Probenspiels als der Puls der Musik, der das Leben des Publikum ergänzte. Publikum und Musik waren Teile des gemeinsam gefüllten Raums und sie modulierten sich gegenseitig. Was ich zuvor mit Zuggeräuschen assoziiert hatte, hörte ich nun als Zwiegespräch, das sich klar und deutlich aus der Musik mit dem Publikum ergab. Das Jagen der Tempi erschien nun als einsamer Sprint, der in die Extase mündet und in einem fast dramatischen Abfall endet. Versteht man Vivaldis Musik als beständigen Dialog mit Menschen, Zeit und Dynamik, wird die für ihn typische Ritornell-Form (das intensive „Schrum-Schrum“ kurzer oft wiederholter Tonfolgen) zum Puls des Lebens. Vivaldis Musik spricht nicht nur mit dem Publikum, sondern ringt auch mit ihm – denn das Publikum hatte im Jahr der Eingangskomposition (1740) dem Komponisten seine Gunst entzogen. Vivaldi ging verarmt nach Wien, wo er bald darauf starb.

Der Wiener Gerhard Fischer hat in einer Novelle „Antonio Vivaldis letzter Sommer, Wien 1741“ Leben und Werk eng miteinander verwoben: „Die Kunst Vivaldis hält eine Komplizenschaft mit der Lungenkrankheit Asthma. Erkrankungen der Lunge machen Fieber und müde. So dehnt sich Vivaldis ganzes Leben zwischen Beschleunigung und Verlangsamung des Atems“ [www.vivaldi-daedalus.eu/vivaldi.html – das Zitat fand ich erst beim Recherchieren am nächsten Tag]

Wenn mal einmal von den „Vier Jahreszeiten“ wegdenkt und erfährt, dass Vivaldi eine „Orlando Furioso“ Oper geschrieben hat, die erstmals 1727 in Venedig, dann nach einer 250jähigen Pause erst 1979 Verona und wieder zehn Jahre später in San Francisco (experimentell) aufgeführt wurde, erahnt man geistig-kulturelle Zusammenhänge, die den Komponisten in unsere eigene Zeit hinein stellen, ohne seine Wurzeln aus dem Übergang von der Renaissance zur Moderne herauszureißen.

I Musici Italiani“ haben mir mehr als nur ein „furioses“ Konzerterlebnis vermittelt, sie haben mich Wege aus der Vergangenheit in die Gegenwart, also: in unser Leben, finden lassen.

Udine: Friedhofsbesuch – ein sonntäglicher Spaziergang

Es ist sonntäglich ruhig; der Unterschied der Tage ist deutlich hörbar. Die Kinder auf dem Weg zur Schule fehlen, die frühen Busse und die übrigen Autogeräusche. Statt dessen rufen aus der „Ferne“ der Innenstadt Tauben, genauer: ich höre nur das Gurren einer Taube. Gesehen habe ich in der Stadt tatsächlich keine Taube. Hat Udine keine Taubenplage?

Erst gegen 9.00 Uhr pfeifft ein einsamer Vogel in der Nähe.

Am späten Nachmittag, nach dem obligaten Mittagsschlaf, zum großen Friedhof gegangen. Auf dem Weg dorthin, der schon auf dem Stadtplan kompliziert wirkte, standen wir ratlos an einem Straßenende und rätselten, ob wir links oder rechts gegehen müßten. Ein junges Paar mit Kinderwagen passierte unseren Standort und der Mann kam nach wenigen Schritten zurück und bot seine Hilfe an. Der Stadtplan verwirrte ihn ebenfalls spürbar; er wies in verschiedene Himmelsrichtungen und nannte Straßen, aber unseren Standpunkt fand er auf dem Plan nicht. Wo der Friedhof ist, wurßte er aber und erklärte uns mehrmals, wie wir zu gehen hätten. Vielleicht hatte er kein Vertrauen in unsere Aufnahmefähigkeit oder in seine Erklärkünste, also brachte er uns an die nächste, entscheidende Straßenkreuzung. Seiner Frau gab er den Haustürschlüssel und ließ sie mit dem erst 10 Tage alten Baby allein. Es wirkte winzig, machte aber mit einem üppigen Haarschopf viel wett. Auf dem Weg bis zur nächsten Straßenecke erzählte er, seine Frau sei Italienerin, er käme aus Rumänien, und eine seiner Omas aus Budapest. Weitere Zahlen gingen ein wenig durcheinander: ob er schon zwölft Jahre hier ist und insgesamt 25 Jahre lang gelernt hat, weiß ich nicht. Er sprach ein klangvolles Italienisch und arbeitet als „constructor“, vermutlich als Maurer oder etwas ähnlichem. Er wirkte sympathisch und sprach während des Weges ununterbrochen. Er brachte uns an einen Kreisverkehr und wies uns den richtigen Weg.

Blick von Grab zu Grab

Wir erreichten den Friedhof eine Stunde vor Toresschluß. Eindrücklich war das von dicken Mauern umgebene Innenareal, in dem sich eine regelrechte Totenstadt befand; jedes Grab war ein Haus im Gewandt der Moderne der Nachkriegszeit. Unter den Arkaden der Mauern befanden sich alte Familiengräber, in die Mauer oder in den Boden eingelassen.

 

 

 

 

Totenbungalow

Erdbestattungen im üblichen Stil, wie wir es von unseren Friedhöfen kennen, sah ich nicht. Erst nach der Umrundung des Friedhofareals, sah ich eine Öffnung zu einem weiteren Friedhofsteil. Dort befanden sich dann die „normalen“ Columbarien und die Erdgräber – und eine geteerte Straße öffnete diesen Bereich auch für Autos mit gebrechlichen Besuchern (wir trafen gleich auf ein solches Beispiel).

 

Grabmal einer Handwerker Familie, mit ausgebreiteten (metallenen)Werkzeugen an der rechten Seite

 

Familiengrab mit Portrait eines im WK 1 gefallenen Soldaten und einer Schwester (?), die ins 21. Jahrh. lebte

Der Rückweg führte uns durch unindividuelle, typisch italienische Wohnbebauungen und einen kleinen Park, der wie ein Pasolini-Idyll wirkte. Wir näherten uns von Westen der historischen Stadt und machten in einer unansehnlichen Straße einen kurzen Stopp, weil ein Schaufenster ein schönes farbiges Speiseeis-Angebot ausbreitete. Das Eis war schmackhaft und die Pause belebend. Nach drei weiteren Ecken waren wir „zu Hause“.

La Notte dei Lettori – ein pars pro toto Eindruck

Udine bietet im Juni ein viel versprechendes Literatur- und/oder Lesefestival: „La Notte dei Lettori“ – eine Nacht der Leser. Das mit den Lesern ist nicht so wörtlich zu nehmen und das mit der Nacht auch nicht. Die letzte von 14 Veranstaltungen am Freitag und von 35 Veranstaltungen am Samstag begann zwar tatsächlich erst um 23.00 Uhr (und bezog sich vor allem auf ein Zwiegespräch von Musik und Literatur). Und der Anteil der Leser war wohl bei allen Veranstaltungen vor allem der der Zuhörer.

Bereits im vergangenen Jahr habe ich die „La Notte dei Lettori“-Veranstaltungen kennen gelernt – und sie als ein wenig mühsam empfunden. Aber der Titel beflügelte schon da und ebenso auch heute meine Fantasie. Aus einer „Nacht der Leser“ könnte man ein reizvolles Veranstaltungskonzept machen, wenn man den Leser tatsächlich als einen Lesenden ernst nähme.

Dreizehn Läden aus dem Stadtzentrum boten einen Parcours für Kulturflaneure durch den historischen Stadtbereich. Für eine Stadt mit deutlich historischem Charakter, knapp unter 100.000 Einwohner, und einer erst 1978 gegründeten Universität (16.000 Studierende) – die sich als bilingual bezeichnet, aber verschweigt, welches die zweite Unterrichts- oder Studiensprache ist -ist die Zahl der Buchhandlungen erstaunlich hoch. Die Buchhandlungen, die ich im Zentrum gesehen oder besucht habe, sind eindrücklich und gut bestückt.

Udine wirbt mit einem umfangreichen Tourismus-Angebot, in das ich im Monat Juni auch die mit insgesamt 49 Veranstaltungen positionierte „Notte dei Lettori“ rechnen mag. Aber alle Veranstaltungen wurden ausschließlich in italienischer Sprache abgehalten, auch die mit dem in Triest lebenden, aber slovenisch schreibenden Autor Marco Kravos. Ein Gespräch mit ihm in der prestigeträchtigen Loggia del Lionello (1441), dem historischen Sitz der Kommune im damals gerade venezianisch gewordenen Friaul, erscheint mir typisch, weil es das sehr zeitgemäßte Thema („poeti di frontiera“) so sehr zwiespältig annonciert: sind hier die Poeten der Grenze gemeint oder ein Sprechen über (innere) Grenzen? Kravos wurde 1943 in Montecalvo Irpino geboren, in Campanien, wohin seine Eltern von den italienischen Faschisten verbannt wurden. Es lagen zwei Kinderbücher von ihm auf dem Büchertisch, aber nicht der Band, aus dem er zweimal vorlas.

Marko Kravos, geb.1943

Er wurde von zwei jüngeren Männern in dem mir bekannten und vertrauten Stil eines literarisch-akademischen Gesprächs befragt. Seine Antworten passten gut in das Spiel von erwartetem Festlegungsduktus und dem Ausweichen des Autors. Mein Italienisch ist nicht gut genug, um langatmige Auslassungen zu verfolgen, aber mein Gehör fein genug für atmosphärische Befindlichkeiten.

Marco Kravos ist im Verbannungsort seiner Eltern geboren, als Aussätziger sozusagen (man darf sich hier an Carlo Levi’s „Christus kam nur bis Eboli“ erinnern, der 1935/36 in einen etwas südlicheren Bereich als Kravos Eltern verbannt wurde). Es hätte nahe gelegen, den Autor Kravos nach der Nachhaltigkeit seiner Kindheiterlebnisse zu fragen. Etwa nach Einflüssen auf seine Kinderbücher.

Zwei Kravos Kinderbücher

zwei Kinderbücher von Marko Kravos

Praktische Grenzerfarungen waren, trotz der überall in Italien sichtbaren Migranten, auch in Udine, nicht Inhalt des Gesprächs mit dem Autor. Warum wurde die Gegenwart ausgeblendet?

Allein der Ton, in dem miteinander gesprochen wurde, wirkte trocken und altbacken. Während ich in den Büchern von Kravos blätterte, fielen mir viele Fragen zum Thema ein – Fragen, die den Allltag in dieser sprachlich italienisch und deutsch geprägten Stadt und Region jeden Tag prägen. Sie wurden hier eloquent umgangen.