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Irrsinn bleibt Irrsinn und wird nicht zum Sinn

Auf der Bühne drehte sich ein Text- und Schrei-Rondell, dessen Anfang unverständlich und dessen Ende nicht vorhersehbar war. Nach mehr als drei Stunden, in denen sich das Publikum erstaunlich still und langmütig verhielt, waren Unmutswellen fühlbar und die vorübergehende Stille im Sprachduktus der Bühnenprotagonisten ging in leichte (Sprach)Späße über, die das Publikum mit Lachen und Ansätzen zu einem Schlussapplaus begleitete. Als dann, fast abrupt, wie ein unausgesprochenes „jetzt ist gut“ kein weiteres Wort mehr auf der Bühne fiel, befreite sich das Publikum mit einem lang anhaltenden Applaus.Ein Applaus als Dank für ein Ende des Spiels. Eigentlich nicht das, was Schauspieler erwarten. Doch hier war es spürbar der Dank für eine Erlösung.Ich fühlte meinen Körper erstarrt von der Anstrengung der Aufmerksamkeit und dem Bemühen, das Bühnengeschehen aufzunehmen, zu verfolgen und wenn möglich, ihm einen Sinn zu entnehmen. Abgerissene Satz- und Textfragmente drehten sich wie in einem Strudel immer wieder mal an der Oberfläche, mal sanken sie ins Unverständliche und tauchten immer wieder, sinnlos, auf.„Erniedrigte und Beleidigte nach dem Roman von Fjodor M. Dosto-jewski unter Verwendung der Hamburger Poetikvorlesung von Wolfram Lotz“ gastierte auf der Bühne des Schauspielhauses Hannover. Wurde hier das Publikum beleidigt und wurden hier die Schauspieler erniedrigt? Mit dieser Frage versuchte ich immer wieder, das Bühnengesche-hen zu strukturieren, vielleicht sogar zu hinterfragen. Ich weiß nicht, ob ich schon nach der ersten oder erst nach der zweiten Stunde dieses Schreitheaters aufgab. Alle Assoziationen, die ich abrufen konnte, zerschellten am Lautpegel, der aus dem Bühnenraum ins Publikum drang: der stille Handke, der seinen Figuren das abgestimmte Sprechen in den 1960er Jahren vorenthielt, sie schimpfen und durcheinander sprechen ließ, der nachsichtig aufgeregte Ionesco, der seine Figuren der Realität entzog, der improvisierende H.C. Artmann, für den beständiges Reden Überlebenskunst war, selbst Ariane Mnouchkine „Théâtre du Soleil“ und Peter Schumanns „Bread and Puppet Theatre“ waren ästhetische und vielleicht sogar wissenschaftliche Kommentare zur Theaterentwicklung. Einzig anarchische Polit-Theater Versuche, die ich in den 1960er Jahren in der Schweiz und in Polen durch Studententheater erlebte, kommen in etwa dem nahe, was das Staatsschauspiel Dresden produzierte.Warum muss man bei Dostojewski unbedingt und dauerhaft schreien, fragte ich mich – und erhielt nach der Aufführung unerwartet durch eine mitwirkende Schauspielerin die Erklärung: „Damit man seinen Text durchbringen kann und verstanden wird“. Wenn ich die knappen Informa-tionen richtig verstanden habe, dann haben die mitwirkenden Schauspieler und Schauspieler-innen aus Dostojewskis erstem Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ Textkollagen hergestellt, die sie auf der Bühne in freier Phrasierung und/oder Vollständigkeit in einen nicht deutlich fest-gelegten Improvisationsrahmen eingaben. Jede Figur auf der Bühne versuchte offensichtlich, ihren Text möglichst vollständig und hörbar um- und durchzusetzen. Das artete für mich in einen Schrei-Kampf aus. Vielleicht ist das eine zeitgenössische Art der „Publikums-beschimpfung“. Oder – und das wäre für mich die aktuellere Konnotation – in ein Ab- oder Schaubild unserer politischen Kommunikation: man beschallt sich gegenseitig, lässt einander nicht ausreden und hört einander auch nicht zu, hat ein Publikum und ignoriert es. Und so wie das Publikum der aktuellen Politik, die Bürger und Wähler, sich nicht trauen, gegen das Geschrei mit Forderungen um neues Personal das alte Ensemble abzulösen, so blieb auch das Publikum im Saal bis zum Schluss (überwiegend) sitzen.Vieles auf der Bühne geschieht „bildhaft“, möglicherweise sogar sinnbild-haft, aber alle entstehenden Bilder bleiben vage. Die Aufführung beginnt mit einer Einnebelung der leeren Bühne und aus dem Nebel rennen zwei Figuren an die noch freie Rampe und wieder zurück in den Nebel und wieder nach vorn. Wer wird da benebelt? War das ein Zeichen von Uneinsichtigkeit für den gesamten Ablauf des Abends? Auf einer großen (Lein?)Wand wird von den Ensemblemitgliedern, die gerade keinen Text-Kampf miteinander austragen mit großen und kleinen Pinseln schwarz auf immer düstrerem weiß gemalt. Immer wieder werden darüber Film- oder Fotosequenzen geblendet. Am Ende bleibt ein übergroßes kindlich anmutendes Gesicht mit Kulleraugen, das an Munchs Gesichter und an japanische Manga-Köpfe aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gemahnt. Mehrfach wird zwischendurch die große Bildwand gedreht. Weshalb? Für die Schauspieler das Ende-Zeichen eines (inneren) Themen-Text Zykluß. Bis zum Drehen hat jede Figur Zeit, ihren Text, ihren Zustand gegen die anderen Figuren durchzusetzen. Ein interessanter Aspekt – wenn er denn irgendwie dem Publikum vermittelt würde. Da die Vermittlung fehlt, wird das Drehen der bemalten Wand sinnlos für den Betrachter; es mutiert zu einem versteckten Bühnen-Signal.Jedesmal, erfuhr ich von einem Ensemblemitglied, sieht das Bild am Ende der Aufführung anders aus und gibt ein Portrait des Abends ab (das allerdings nur von Mitwirkenden gelesen werden kann). Warum finde ich keinen Hinweis auf den Ausgangspunkt oder die Ideen der Textbearbeitung im recht spartanischen Programmheft, denn die Vorlage ist ein Roman und kein Stücktext?Man muss nicht alles erklären, was auf dem Theater dargestellt wird, aber man sollte, was man sagen möchte, zeigen, also sichtbar und lesbar werden lassen. Das habe ich sehr vermisst.

Auf der Seite des Staatsschauspiel Dresden findet man kurze Ausschnitte aus einer der Aufführungen

Heinz Thiel

Unter https://www.staatsschauspiel-dresden.de/…/erniedrigte_und_beleidigte

findet man Fotos und Video-Ausschnitte aus einer der Aufführungen