Vario 50 – ein Konzertwochenende mit freier improvisierter Musik im Kubus, Hannover
10. – 12.10.14
Auf dem Weg zur Auftaktsession von Vario 50 bewegte mich nicht die Frage nach der Musik, sondern eher nach dem Publikum. Mit der frei improvisierten Musik von Günter Christmann (Langenhagen) , einem ohne Themenvorgabe Musizieren, war ich schon in den frühen 1990er Jahren in Kontakt gekommen. Zusammen mit Elke Schipper versammelte er in verschiedenen Räumen in Hannover seit 1976 Musiker aus der Free Jazz Szene, die sie von internationalen Tourneen her kannten. Es war immer eine überschaubare Gruppe von relativ homogener Altersstruktur bei Musikern und Publikum. Wie würden Musiker und Publikum nach einem Vierteljahrhundert aussehen und auf mich wirken?
Das Publikum hatte die immer noch gleiche Altersstruktur wie die Musiker. Der schwedische Saxophonist Mats Gustafsson war mit 50 Jahren der Jüngste der Teilnehmer (vermutlich auch in Bezug aufs Publikum).
Man kam zu einem Freundestreffen. Die Instrumente waren vor und neben schlichten Plastikstühlen auf einzelnen “Teppichinseln“ positioniert. An ein Galakonzert, das es von Geist und Qualität her war, erinnerte das alles nicht. Es herrschte gekonnte Improvisation auch außerhalb des Musizierens vor; jeder hatte seine extensions mitgebracht, von den kleinen Verstärkeranlagen bis zu dünnen Sitzkissen und Plastikkästen als Beistelltischchen. Der leergeräumte Kubus-Ausstellungsraum hatte das Flair eines weißgetünchten Existentialistenkellers.
Hier wurde nicht einfach Musik, gute, höchst artifizielle Musik gemacht, hier wurde ein Lebensstil über Klang und Geräusche entrollt. Was mich in diesen Lebensstil rasch hineinzog, war die Selbstverständlichkeit des musikalischen Kosmos, der sich vom ersten Ton an aufbaute. Hier spielten Musiker zusammen, die in wechselnden Kombinationen schon viele Jahre ihre Klangwelten ausgetauscht hatten, aber es beeindruckte mich dennoch tief, wie sicher die einzelnen Versatzstücke die gemeinsame Welt bauten.
Ich kann die Abläufe von frei improvisierter Musik nicht erinnerungsmäßig speichern, ich versuchte, eine Totalität zu erfassen. Natürlich gelang das nicht. Vielleicht hätte ich die Augen schließen sollen. Aber ich wollte ja auch sehen, live erleben. Die Augen lenkten ab, versperrten mir den Eintritt in den Ton-Raum. Diese Musik kann ich nur live erleben. Es wird ein Hindernislauf, weil die Augen einzelne Passagen herausheben und die anderen fast vergessen lassen. Da werde ich als Zuhörer zum Teil der Gestaltung. Nun treten die Musiker aus dem Sextett heraus, nur weil ich sie ansehe und ihre Version damit wahrnehme und zugleich erlebe, wie sehr ihre Individualität mit dem Gemeinsamen verwoben ist. (Else Lasker-Schülers Gedicht vom „Tibet Teppich“ fällt mir dabei ein).
Als Sextett spielen John Russel (GB), Paul Lovens, Thomas Lehn, Mats Gustafsson (S), Alexander Frangenheim und Günter Christmann zwei takes. Der erste ist lang, so lang, dass man sich gut einfühlen und einhören kann in die Grenzgänge im Tonbereich, der zweite kurz. Der erste take ist gewissermaßen zum Aufnehmen der Individualität der Musiker, der zweite zum Realisieren der hohen artifiziellen Qualität.
Frei improvisierte Musik ist ein Nieseln, Rascheln, Schütteln oder Hüpfen von Geräuschen und Tönen. Dicht, eng, zerfasert entsteht aus dem allgemeinen Stakkato ein Gewebe, in das man sich einhüllen, über das man schreiten oder mit dem man fliegen kann. Und dazwischen sitzt Thomas Lehn (studierter Tonmeister) und wischt Rhythmen und Geräusche wie Wirbelsäulenpartikel in den Improvisationsfluss.
Die Instrumente werden von den Musikern gehandhabt wie Skulpturen – rundum. Alles an ihnen ist brauchbar für das entstehende Klang-Weltbild. Auch die Musiker selbst scheinen Teil ihrer Musikproduktion zu sein; es sieht so aus, als ob Körper und Bewegungen die Geräusche und Töne ebenso erzeugen wie die Hand- und Fußarbeit. Bewegungen und Töne haben eine große Nähe und Ähnlichkeit.
Nach dem Warmspielen folgte „con moto 1“, später auch noch „con moto 2“, mit der Tänzerin Regina Baumgart, die von Alter und Lebensfluß her wunderbar in dieses En- semble passt. Sie hat mich mit ihrem Gesicht bezaubert, das alle glatte Tänzerinnenschönheit überstrahlt. In ihren Bewegungen habe ich meine Begegnung mit Merce Cunningham wiedererlebt, der einer ihrer Lehrer war.
Bei ihrem Auftritt mit „con moto 2“ (= mit Bewegung) zelebriert sie einen table dance, den Günter Christmann mit dem Atem seiner Posaune zart und wild begleitet.
Anrührend ist immer wieder die Intimität, die aus der freien Improvisation entsteht.
Ein großer Abend.
Und wer immer es rechtzeitig liest, sollte den Samstag Abend und den Sonntag Vormittag noch nutzen. Vario 50 ist beeindruckend. Übers Internet finden sich ausreichend Informationen über die Vario-Reihe von Günter Christmann und Elke Schipper.
Hannover, Städtische Galerie KUBUS, Theodor-Lessing-Platz