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La Notte dei Lettori – ein pars pro toto Eindruck

Udine bietet im Juni ein viel versprechendes Literatur- und/oder Lesefestival: „La Notte dei Lettori“ – eine Nacht der Leser. Das mit den Lesern ist nicht so wörtlich zu nehmen und das mit der Nacht auch nicht. Die letzte von 14 Veranstaltungen am Freitag und von 35 Veranstaltungen am Samstag begann zwar tatsächlich erst um 23.00 Uhr (und bezog sich vor allem auf ein Zwiegespräch von Musik und Literatur). Und der Anteil der Leser war wohl bei allen Veranstaltungen vor allem der der Zuhörer.

Bereits im vergangenen Jahr habe ich die „La Notte dei Lettori“-Veranstaltungen kennen gelernt – und sie als ein wenig mühsam empfunden. Aber der Titel beflügelte schon da und ebenso auch heute meine Fantasie. Aus einer „Nacht der Leser“ könnte man ein reizvolles Veranstaltungskonzept machen, wenn man den Leser tatsächlich als einen Lesenden ernst nähme.

Dreizehn Läden aus dem Stadtzentrum boten einen Parcours für Kulturflaneure durch den historischen Stadtbereich. Für eine Stadt mit deutlich historischem Charakter, knapp unter 100.000 Einwohner, und einer erst 1978 gegründeten Universität (16.000 Studierende) – die sich als bilingual bezeichnet, aber verschweigt, welches die zweite Unterrichts- oder Studiensprache ist -ist die Zahl der Buchhandlungen erstaunlich hoch. Die Buchhandlungen, die ich im Zentrum gesehen oder besucht habe, sind eindrücklich und gut bestückt.

Udine wirbt mit einem umfangreichen Tourismus-Angebot, in das ich im Monat Juni auch die mit insgesamt 49 Veranstaltungen positionierte „Notte dei Lettori“ rechnen mag. Aber alle Veranstaltungen wurden ausschließlich in italienischer Sprache abgehalten, auch die mit dem in Triest lebenden, aber slovenisch schreibenden Autor Marco Kravos. Ein Gespräch mit ihm in der prestigeträchtigen Loggia del Lionello (1441), dem historischen Sitz der Kommune im damals gerade venezianisch gewordenen Friaul, erscheint mir typisch, weil es das sehr zeitgemäßte Thema („poeti di frontiera“) so sehr zwiespältig annonciert: sind hier die Poeten der Grenze gemeint oder ein Sprechen über (innere) Grenzen? Kravos wurde 1943 in Montecalvo Irpino geboren, in Campanien, wohin seine Eltern von den italienischen Faschisten verbannt wurden. Es lagen zwei Kinderbücher von ihm auf dem Büchertisch, aber nicht der Band, aus dem er zweimal vorlas.

Marko Kravos, geb.1943

Er wurde von zwei jüngeren Männern in dem mir bekannten und vertrauten Stil eines literarisch-akademischen Gesprächs befragt. Seine Antworten passten gut in das Spiel von erwartetem Festlegungsduktus und dem Ausweichen des Autors. Mein Italienisch ist nicht gut genug, um langatmige Auslassungen zu verfolgen, aber mein Gehör fein genug für atmosphärische Befindlichkeiten.

Marco Kravos ist im Verbannungsort seiner Eltern geboren, als Aussätziger sozusagen (man darf sich hier an Carlo Levi’s „Christus kam nur bis Eboli“ erinnern, der 1935/36 in einen etwas südlicheren Bereich als Kravos Eltern verbannt wurde). Es hätte nahe gelegen, den Autor Kravos nach der Nachhaltigkeit seiner Kindheiterlebnisse zu fragen. Etwa nach Einflüssen auf seine Kinderbücher.

Zwei Kravos Kinderbücher

zwei Kinderbücher von Marko Kravos

Praktische Grenzerfarungen waren, trotz der überall in Italien sichtbaren Migranten, auch in Udine, nicht Inhalt des Gesprächs mit dem Autor. Warum wurde die Gegenwart ausgeblendet?

Allein der Ton, in dem miteinander gesprochen wurde, wirkte trocken und altbacken. Während ich in den Büchern von Kravos blätterte, fielen mir viele Fragen zum Thema ein – Fragen, die den Allltag in dieser sprachlich italienisch und deutsch geprägten Stadt und Region jeden Tag prägen. Sie wurden hier eloquent umgangen.