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Nachhaltige Augenblicksmusik

Vario 34 Sprengel Museum 23.08.2018

Ein sperriges Motto an der Wand des „Marktplatzes“ im Sprengel Museum im Eingangsbereich begrüßte zweisprachig ein knappes halbes Hundert interessierte Zuhörer. Günter Christmann und Elke Schipper hatten nach längerer Unterbrechung wieder zu einem ihrer vario Konzerte eingeladen. Vario Konzerte waren immer – und das trifft auch auf das Sprengel Konzert wieder zu – Musikgenüsse der Extraklasse. Allerdings muss man dafür bereit sein, hohe Konzentration fürs Zuhören und Zusehen einzusetzen, denn vario steht für „freie Improvisation“

Ein (fast) einfaches Bild, groß an die Wand geschrieben, mit den ich allerdings erst warm wurde, als ich später die Zeile „Am Strand hat das Meer seine Ohren zurück gelassen“ aus einem Gedicht von Paul Eluard fand, das er 1925 über die Arbeiten von Paul Klee schrieb.

Die Zuhörer beim Konzert waren überwiegend männlich, kaum unter 50 Jahre alt und allesamt sehr vertraut mit der Musik und den fünf internationalen Musikern.

Freie Improvisation ist die Erzeugung von Geräuschen, Tönen und Klängen mit allem, was Instrumente an „sound“ hergeben können. Die Kompositionen entstehen im Augenblick in den Köpfen der Musizierenden und fügen sich zu filigranen, fülligen, dichten oder haarfeinen Klang-Geweben zusammen. Man könnte es eine Verschwisterung von Architektur und Schreinerei nennen.

Ich kann mir keine Rezension eines solchen Konzertes vorstellen, obwohl ich es schon mal versucht habe.

Das etwa zweistündige Musikereignis habe ich in Wörter zu kleiden versucht. Am Ende bin ich mit Bildern von Gräsern, Windbewegungen und Tiergekrabbel nach Hause gegangen.

 

 

Alexander Frangenheim + Mats Gustafsson (re)

Paul Lovens, Percussion

 

 

 

 

 

 

 

 

Musiziert wurde überwiegend gemeinsam, zweimal in kleiner Gruppe.

1) alle zusammen

Es beginnt mit einem ersten, überraschenden Saiten-Zupf, Fingerhakeln mit Cello.

Kleingetier durch hohes Gras.

Wischwolken auf Laptopoberfläche; Cello und Bass und Wolkengebilde. Leise Trappeltrommel.

Vom Saxophon gespuckte Schlangen, überetzt in gedämpfte Sprachhämmerei – Trommeltrippeln überholt.

2) Duo Bass und Elektronik

Tonkonstruktionen. Raumelektronikgerede. Gefasel.

(Man sieht höchste Konzentration bei den Musikern auf die mechanische Erzeugung der Töne, auch der elektronischen)

3) Trio der anderen

Striche, Punkte, Kreisel – Klee taucht auf; Geräusche, angedeutete Töne. Das Wetter macht das Schlagwerk, stückweise aufgehoben vom Boden.

Töne erzeugen – Klang ergeben

4) alle zusammen

Verbissenes Zupfen über vergehendem Tonhauch. Landschaft der Weite, Tonfäden ausgedehnt, ein hölzerner Schlag, sehr leise als überraschendes Ende.

Thomas Lehn Live-Elektronik

 

 

 

 

 

 

 

Notate der Improvisationen nach einer Pause:

Heute Abend war ich in der Natur, aber nicht im Wasser, eher im hohen Gras, geschrumpft zu einem Käfer mit großen Ohren. Ich hörte den „schweigenden“ Djungel um mich, das Leben zwischen den Gräsern, das ich nicht kenne, weil ich es nicht sehe.

Laut ging es zu und hektisch, abgerissen und lethargisch.

Reißen und spucken. Gustafson spuckt gern Kiesel-Tropfen.

An den Instrumenten und auf den Stühlen hochsensible Ästheten, die in ihrer Materialität sehr bodenständig sind. Hinter mir wurde in nahezu verschlüsselten Sätzen über Fotografie und Kamerawinkel gesprochen. Nachfahren von Schwitters. Theater der Inversion.

Solokünstler ohne den Solisten Habitus, denn nur gemeinsam sind sie stark.

Flächenrauschen mit Verzögerung.

Bodensatz vom Schlagwerk

 

 

 

 

Durch die Posaune atmen

Vario 50 – ein Konzertwochenende mit freier improvisierter Musik im Kubus, Hannover

10. – 12.10.14

vario 50. Das Sextett ohne Christmann

vario 50. Das Sextett ohne Christmann

Auf dem Weg zur Auftaktsession von Vario 50 bewegte mich nicht die Frage nach der Musik, sondern eher nach dem Publikum. Mit der frei improvisierten Musik von Günter Christmann (Langenhagen) , einem ohne Themenvorgabe Musizieren, war ich schon in den frühen 1990er Jahren in Kontakt gekommen. Zusammen mit Elke Schipper versammelte er in verschiedenen Räumen in Hannover seit 1976 Musiker aus der Free Jazz Szene, die sie von internationalen Tourneen her kannten. Es war immer eine überschaubare Gruppe von relativ homogener Altersstruktur bei Musikern und Publikum. Wie würden Musiker und Publikum nach einem Vierteljahrhundert aussehen und auf mich wirken?

Das Publikum hatte die immer noch gleiche Altersstruktur wie die Musiker. Der schwedische Saxophonist Mats Gustafsson war mit 50 Jahren der Jüngste der Teilnehmer (vermutlich auch in Bezug aufs Publikum).

Man kam zu einem Freundestreffen. Die Instrumente waren vor und neben schlichten Plastikstühlen auf einzelnen “Teppichinseln“ positioniert. An ein Galakonzert, das es von Geist und Qualität her war, erinnerte das alles nicht. Es herrschte gekonnte Improvisation auch außerhalb des Musizierens vor; jeder hatte seine extensions mitgebracht, von den kleinen Verstärkeranlagen bis zu dünnen Sitzkissen und Plastikkästen als Beistelltischchen. Der leergeräumte Kubus-Ausstellungsraum hatte das Flair eines weißgetünchten Existentialistenkellers.

Hier wurde nicht einfach Musik, gute, höchst artifizielle Musik gemacht, hier wurde ein Lebensstil über Klang und Geräusche entrollt. Was mich in diesen Lebensstil rasch hineinzog, war die Selbstverständlichkeit des musikalischen Kosmos, der sich vom ersten Ton an aufbaute. Hier spielten Musiker zusammen, die in wechselnden Kombinationen schon viele Jahre ihre Klangwelten ausgetauscht hatten, aber es beeindruckte mich dennoch tief, wie sicher die einzelnen Versatzstücke die gemeinsame Welt bauten.

Ich kann die Abläufe von frei improvisierter Musik nicht erinnerungsmäßig speichern, ich versuchte, eine Totalität zu erfassen. Natürlich gelang das nicht. Vielleicht hätte ich die Augen schließen sollen. Aber ich wollte ja auch sehen, live erleben. Die Augen lenkten ab, versperrten mir den Eintritt in den Ton-Raum. Diese Musik kann ich nur live erleben. Es wird ein Hindernislauf, weil die Augen einzelne Passagen herausheben und die anderen fast vergessen lassen. Da werde ich als Zuhörer zum Teil der Gestaltung. Nun treten die Musiker aus dem Sextett heraus, nur weil ich sie ansehe und ihre Version damit wahrnehme und zugleich erlebe, wie sehr ihre Individualität mit dem Gemeinsamen verwoben ist. (Else Lasker-Schülers Gedicht vom „Tibet Teppich“ fällt mir dabei ein).

Als Sextett spielen John Russel (GB), Paul Lovens, Thomas Lehn, Mats Gustafsson (S), Alexander Frangenheim und Günter Christmann zwei takes. Der erste ist lang, so lang, dass man sich gut einfühlen und einhören kann in die Grenzgänge im Tonbereich, der zweite kurz. Der erste take ist gewissermaßen zum Aufnehmen der Individualität der Musiker, der zweite zum Realisieren der hohen artifiziellen Qualität.

Frei improvisierte Musik ist ein Nieseln, Rascheln, Schütteln oder Hüpfen von Geräuschen und Tönen. Dicht, eng, zerfasert entsteht aus dem allgemeinen Stakkato ein Gewebe, in das man sich einhüllen, über das man schreiten oder mit dem man fliegen kann. Und dazwischen sitzt Thomas Lehn (studierter Tonmeister) und wischt Rhythmen und Geräusche wie Wirbelsäulenpartikel in den Improvisationsfluss.

Thomas Lehn, Live-Elektronik

Thomas Lehn, Live-Elektronik

 

Die Instrumente werden von den Musikern gehandhabt wie Skulpturen – rundum. Alles an ihnen ist brauchbar für das entstehende Klang-Weltbild. Auch die Musiker selbst scheinen Teil ihrer Musikproduktion zu sein; es sieht so aus, als ob Körper und Bewegungen die Geräusche und Töne ebenso erzeugen wie die Hand- und Fußarbeit. Bewegungen und Töne haben eine große Nähe und Ähnlichkeit.

 

 

 

con moto2_ Regina Baumgart + Günter Christmann

con moto2_ Regina Baumgart + Günter Christmann

Nach dem Warmspielen folgte „con moto 1“, später auch noch „con moto 2“, mit der Tänzerin Regina Baumgart, die von Alter und Lebensfluß her wunderbar in dieses En- semble passt. Sie hat mich mit ihrem Gesicht bezaubert, das alle glatte Tänzerinnenschönheit überstrahlt. In ihren Bewegungen habe ich meine Begegnung mit Merce Cunningham wiedererlebt, der einer ihrer Lehrer war.

Bei ihrem Auftritt mit „con moto 2“ (= mit Bewegung) zelebriert sie einen table dance, den Günter Christmann mit dem Atem seiner Posaune zart und wild begleitet.

Regina Baumgart in con moto 2

Regina Baumgart in con moto 2

Anrührend ist immer wieder die Intimität, die aus der freien Improvisation entsteht.

Ein großer Abend.

Und wer immer es rechtzeitig liest, sollte den Samstag Abend und den Sonntag Vormittag noch nutzen. Vario 50 ist beeindruckend. Übers Internet finden sich ausreichend Informationen über die Vario-Reihe von Günter Christmann und Elke Schipper.

Hannover, Städtische Galerie KUBUS, Theodor-Lessing-Platz