Das Wetter ist heute vielversprechend: trocken und warm. Um 10.01 Uhr nahmen wir den Zug in Richtung Tarvisio, nach Norden an die österreichische Grenze, mit einem Knick nach Osten.
Gemona ist gleich die nächste Haltestelle nach Udine. Vom Zug aus sieht man wieder recht gut, dass die Berge – und das meint wirklich nicht : Hügel – rechts und links von der Bahntrasse (0ptisch) wirklich nicht sehr weit entfernt sind. Der Bereich der Ebene liegt weitgehend nur zwischen den Flüssen Tagliamento (im Westen) und Torre (im Osten).
Der Besuch in Gemona gilt denn auch der Gefährdung der Städte innerhalb der Bergmassive entlang des heutigen Sloveniens und Österreichs. Gemona wurde 1976 von einem starken Erdbeben heimgesucht. Nahe an tausend Opfer forderten einstürzende Häuser und Türme.

Gemona, vom Burgberg aus gesehen
Als zweite Stadt war Venzone, etwa 15 km. weiter nördlich, betroffen. Beide Städte wurden wieder aufgebaut.
Dem aktuellen Leben in Gemona sieht man keine Wunden mehr an und der interessierte Besucher muß Vorkenntniss mitbringen, um Zeugnisse der Zerstörungen zu erkennen. Am freistehenden Campanile (Kirchtum), der weitgehend kollabierte, erkennt man im unteren Bereich dünne rötliche (Stein)Linien, die die erhaltene Basis markieren. Ähnliche „Linien“ haben mir um die Mitte der 1960er Jahre am Marktplatz in Warschau angezeigt, wieviel vom ursprünglichen „Bild“ nach dem Krieg (dem Zweiten Weltkrieg) übrig geblieben war.

Ein lebendes totes Gebäude, das alte und neue Kino von Gemona
In der Nähe des Doms S. Maria Assunta gibt es eindrückliche Erinnerungsräume mit Fotos von den Erdbeben-Zerstörungen (Frammenti di Memoria). Sie berühren sicherlich die Erinnerungen der Betroffenen, den Besucher erreicht möglicherweise eher die Frage, warum leben die Menschen immer noch am „alten“ Ort.

Historische Fotos vom Dom
Die Menschen sind immer Wanderer gewesen, auch wenn sie durchaus für viele Jahrhunderte an (Wohn)Orten festgehalten haben. Ohne Wanderungen hätten sich die Menschen genetisch nicht entwickeln können.
Für Siedlungsplätze der Menschen gab es vermutlich immer triftige Gründe (Schutz, Wasser, Nahrungsangebote); was davon gilt heute noch? Gilt heute vor allem die Tradition, dass Vorfahren hier gesiedelt hatten?
Ich habe Fragen mit zurück an den aktuellen Standort Udine genommen – und den Eindruck von zwei sehr zeitbezogenen Kirchen, die beide beim Erdbeben zerstört wurden. Mit ihnen ist etwas neu gebaut, nicht wieder aufgebaut worden.
In Udine begann ich dann mit einer ausgedehnten Recherche, um mehr als meine Fotos von den beiden Kirchen als „Beleg des Lebens“ zu haben. Beide Kirchen wurden vom gleichen Architekten (auf)gebaut: dem 1938 in Udine geborenen Augusto Romano Burelli.

Innenraum von S. Antonio von Padua
Auf dem Rückweg vom hoch gelegenen Dom von Gemona zum Bahnhof blickte ich in einer Art offenen Hinterhof auf eine Kirche in zeitgenössischem Gewand: die Kirche des Hl.Antonius von Padua (die in Padua nur als Il Santo bezeichnet wird). Übrig blieb von dem ursprünglichen Bau nur eine Kapelle der Madonna del Rosario von 1687. Sie wurde vom Architekten Burelli, in ein neues Gebäude integriert. Die neue Kirche empfand ich als einen Schutzraum, geduckt und doch durch eine weitgespannte Decke offen. Ich kenne vergleichbare Räume aus Kirchen der 1970er Jahre; hier erinnerte sie mich an einen stollenähnlichen Raum im Berg. Die geduckte Weite des Raumes hat mich beeindruckt.

S.Lucia nach dem Erdbeben, Rückseite mit Absis
Kurz vor Erreichen des Bahnhofs zogen mich linker Hand einige helle Betonformen an. Vom ersten Blick konnte man an eine Art Silo denken, aber mit jedem Schritt um den Bau herum änderte sich sein Gesicht und die Gestaltungsweise. Ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass diese zweite Kirche, S. Lucia, vom gleichen Architekten stammt. Ihr ursprünglicher Bau wurde 1912 errichtet, 1945 durch Bomben zerstört, 1947 wieder aufgebaut und 1976 dann durch das Erdbeben beschädigt (wohl sehr stark). Burelli hat sie dann komplett umgebaut. Der Architekt, Prof. in Venedig, in Udine, in Berlin und Dortmund (eine sehr bunte Mischung an Lehrorten), hat der Kirche vier verschiedene Antlitze verpasst, aber keines scheint zum anderen zu passen.

S.Lucia, Frontansicht – offen und dem Licht zugewandt
Da die Zeit drängte, konnte ich die Kirche nicht betreten. Ich bin aber schon mit dem Äußeren sehr zufrieden. In mir geht der Gedanke nun um: wie kann man mit zwei so starken und verschiedenen zeitgenössischen Kirchen neue Zentren des Wohnens und Lebens für die Menschen bauen?