Schlagwort-Archive: Chicago

Chicago – klare Luft, gefrorene Zeit

1.03.

Im Winter ist ein Stadtbummel häufig nur auf Fotos bei Sonnenschein schön. Chicago empfing mich mit Sonnenschein, Kälte und einer wunderschönen Skyline, aber der Stadtbummel war eher kurz. Ich vermisse die Chance, entspannt mehrfach durch die Straßen gegangen zu sein, aber die Bilder vor meinen Augen werden in meiner Erinnerung bleiben. Ich nehme Chicago als eine sehr angenehme Stadt mit auf meine weitere Reise. Fasziniert hat mich die perfekt designte Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart. Gut, die Vergangenheit (sprich: die marode wirkenden Eisengerüste der Metro, die sichtbar überalterten Züge und Wagons) war nicht unbedingt shining, aber sie war noch sichtbar. Ich liebe es, wenn das Gewesene noch anwesend ist, mich mithin einbettet in die Zeit, mir Entwicklung, Fluß und Überfluß, Mut und Willen zur Gestaltung zeigt. Das ist in Chicago down town der Fall.

Wabash

Wabash im östlichen down town

 

Skyline vom ARt Institut aus gesehen - zwischen down town, Park und Lake Michigan

Skyline vom ARt Institut aus gesehen – zwischen down town, Park und Lake Michigan

Meine Unterkunft bei einer jungen songwriterin liegt auf der Hälfte des Weges von down town zum Flughafen O’Hare. Der Weg in die Stadt ist ein Film, der im Lebensstil des 19. Jahrhunderts beginnt und im frühen 21. Jahrhundert endet.
Auf engstem Raum und in gedrängter Zeit erlebte ich amerikanisches Leben – es ist schon richtig, auch heute noch, was mir vor fast vier Jahrzehnten ein Freund sagte: Amerika ist so wie im Film. Sehr viele Filmbilder sind so wie der Alltag. Wenn ich das formuliere, besteht immer die Möglichkeit, es als Schmäh (miß-)zu verstehen. Den Umkehrschluß halte ich für zutreffend: amerikanisches Kino ist immer schon die visuelle Erzählung amerikanischen Lebens gewesen.

Metro-Station Randolph/Wabash

Metro-Station Randolph/Wabash

Peter Handke schreibt am Ende seines Buches „Der kurze Weg zum langen Abschied“ (1972) von einem Gespräch mit John Ford, bei dem er die Fragen der meist abwesenden weiblichen Protagonistin Judith (die die Rolle seiner Ehefrau Liebgard von der tatsächlichen Reise einnahm) übertrug:
“Wir Amerikaner sagen ‚wir‘, auch wenn wir von unseren Privatsachen reden“, antwortete John Ford. „Das kommt vielleicht daher, daß für uns alles, was wir tun, Teil einer gemeinsamen öffentlichen Aktion ist. Ich-Geschichten gibt es nur dort, wo einer für alle anderen steht.Wir gehen mit unserem Ich nicht so feierlich um wie ihr…Wir sehnen uns nicht danach, einsam zu sein; man wird verächtlich, wenn man allein bleibt, schnüffelt nur noch an sich selber herum…
“Erzählen Sie von sich selber“, sagte Judith.
“Immer wenn ich über mich selber reden wollte, kam es mir vor, als ob es dazu noch zu früh ist“, antwortete John Ford. „Meine eigenen Erlebnisse lagen nie weit genug zurück. So rede ich lieber davon, was andere vor mir erlebt haben. Ich habe ja auch lieber Filme gemacht, die vor meiner Zeit spielen. Nach dem,was ich selber erlebt habe, sehne ich mich kaum zurück, aber das Heimweh ist groß nach Dingen, die ich nie tun konnte, und nach Orten, wo ich nie gewesen bin…“
Handkes Buch ist voll von den Konfrontationen zwischen innerem Autoren-Ich und dem amerikanischen Alltagsleben. Es war mir eine gute und intensive Vorbereitung. Immer noch sehr authentisch und lesbar.

bei der "Intelligentsia"

bei der „Intelligentsia“

Vor dieser kleinen Abweichung waren meine Gedanken in einer In-Cafeteria mitten in down town, die sich „intelligentsia“ nennt (mit rotem Stern. Selbstverständlich! Anlehnungen an den idealisierten sowjetischen Kommunismus inbegriffen), ein karg und nicht eindeutig designtes Lokal ist und voll mit dunkel gekleideten jungen Leuten war. Das Besondere: hier wurde jede Tasse Kaffee zelebriert.

so wird hier Kaffee aufgebrüht - alles Handarbeit

so wird hier Kaffee aufgebrüht – alles Handarbeit

Man bestellte und zahlte und wartete dann auf den Aufruf, seinen Kaffee abzuholen. Ich verstand das Prozedere erst, nachdem ich (die Portion war nicht nur sehr schmackhaft, sondern auch durch ein Nachschenke-Weinkännchen reichlich) die Menschen um mich herum beobachtete. Es wurde absolut jeder Kaffee „handgemacht“, angefangen beim Mahlen der Bohnen.

Mein Gedeck

Mein Gedeck

Das Zelebrieren hat seinen Preis, übertrieben ist er dennoch nicht. Auch bei der „intelligentsia“ ist die Kommunikation durchweg digital. Der Minicomputer in der Hand bestimmt das Gespräch, weniger das hörbare Reden. Hinter mir saßen zwei Kaffeetrinker, die tatsächlich die ganze Zeit über miteinander sprachen. Es war eine angenehme Atmosphäre: man war allein und doch unter anderen (s. Handke). Die sympathischen jungen Leute, die den Betrieb am Laufen hielten, bezogen mich als Einzelnen immer mal wieder in ein Kurzgespräch ein.

Einmal durch Jesus Raphael Sotos Kunst (1972) tanzen

Einmal durch Jesus Raphael Sotos Kunst (1972) tanzen

Der Rest des Nachmittages spielte sich für mich im „Art Institut of Chicago“ ab – eine tolle Sammlung, die man so richtig genießen kann, wenn man Kunst- und Sammlungsgeschichten Europas und Amerikas einigermaßen kennt.

David Hockney,American Collectors,1968

David Hockney,American Collectors,1968

Wunderbar präsentiert durch kleine und kleinste Arbeiten sind die 1930/40 Jahre, die Jahre der Emigration europäischer Künstler nach Amerika. Hier umfängt den Besucher die Intimität der surrealen und phantastisch-realen Gedankenwelten. Wohltuend war die Fülle der Besucher, vor allem der Familien mit Babies und Kindern.