In Apulien 2 – Lecce, 23.09.2015
Nach Salerno, Taranto, Brindisi, Gallipoli und Otranto, fünf Hafenstädten, erscheint Lecce in der Mitte der beiden apulischen Küstenstreifen beim ersten ausführlichen Spaziergang wie eine typische Stadt-Stadt: Straßen und Plätze haben ein angenehmes, selbstverständliches Verhältnis zueinander. Man wechselt von boulevard-ähnlichen Straßen zu Alltags-Straßen und dann wieder zu kleinen, manchmal nur wenig mehr als schulterbreiten Gassen. Es sind nur wenige Schritte, bevor sich Ecken erweitern oder kleine Plätze bilden, als ob nicht jeden Quadratmeter Stadt auch gleich Bebauung sein sollte.
Gleich nach dem ersten Kirchenbesuch, der hl.Irene gewidmet, die im Norden kaum im europäischen Gesamtkonzert der Heiligen auftritt, zieht eine Buchhandlung mich an; es sind vor allem die Cover der Bücher, die mich ins Innere ziehen. Ein weitläufiges Gewölbe ist auf geschickte Weise mit den attraktiven Blickfängen bestückt. Italien hat ein sehr eigenständiges Bildgefüge, mit dem es seine Menschen für Geschichten interessiert.
Lecce, Provinzhauptstadt (93.000 Einwohner), ist, soweit die Wege einen Erstbesucher führen, vor allem Touristenstadt. Im Umkreis, den man abschreitet, gibt es nur noch Verwaltungsinstitutionen, Banken, Cafés, Restaurants, Hotels und B & B Unterkünfte.Letztere sind oft kleine oder sogar sehr kleine Wohnungen im historischen Baubestand. Mit ein wenig Glück, hört man zur Siesta-Zeit und nach dem Einbrechen der Dunkelheit die Stimmen der noch verbliebenen Lecceser (telefonierend, streitend, ermahnend). Für eine Selbstverpflegung muss man das centro storico verlassen; aber nicht jeder Weg führt in einen Alimentari oder Supermarkt.
Lecce ist so selbstverständlich in seiner unaufdringlichen Schönheit, dass man schnell sicher ist: hierher kommt man nochmals zurück.
Einzelreisende fliehen vor den Touristen, die noch im September gern busladungsweise auf den Kirchenstraßen vorwärts oder gegeneinander getrieben werden, in die schmalen Gassen und finden dort kleine Werkstätten, in denen das alte Handwerk der Papiermaché-Figuren (cartapesta) gepflegt wird (und auch erlernt werden kann). Zu mehr als einem kurzen Blick durch eine der Türen habe ich es nicht gebracht – die Figuren erschienen mir zu wenig attraktiv. Das verwundert nicht, denn die Cartapesta-Kunst ist die Kunst, mit billigem Material die Heiligenfiguren aus den Kirchen zu imitieren.
Lecce ist keine arme Stadt, man sieht gut gekleidete Menschen und attraktiv gestaltete Schaufenster; aber bis in die Wohnviertel und die alltägliche Lebensumgebung der Einwohner findet man als Gast kaum den Weg. Man lebt ein wenig und im ganzen sehr angenehm mit der Kulisse des Historischen. Die ein wenig zu verstehen, ist schon Aufwand, aber ein gewinnbringender.