12.09.2013
Neben dem Bahnhof Peleti, dem östlichen der vier Budapester Bahnhöfe, ist auf den Stadtplänen ein großes Grünareal eingezeichnet, „Kerepesi temetö“. Ich vermutete dahinter einen zentralen Friedhof und überschritt vom Bahnhof kommend die mehrspurige Autostraße. Zwei große Blockumbauungen muß man, eine Tankstelle im Blick, erst entlang gehen, bis man an eine hohe Backsteinmauer kommt. Aber der Eingang, den man findet, riecht bedenklich nach Pferdestall. Zum Zentralfriedhof, der „Kerepesi temetö“ tatsächlich ist, kommt man nur von der anderen Seite der „großen Mauer“.
Eine Einfahrt wie zu einem Industriekomplex nimmt dem Besucher erst einmal jeglichen Druck von Traurigkeit. Geschäftig fahren Autos ein und aus. Man wähnt sich in einem amerikanischen Gangsterfilm, in dem die schweren Limousinen Unheil verheißend auf die breiten Straßen durch das satte Friedhofsgrün einschwenken. Die geteerten Straßen sind schon fast stattliche Alleen und wenn man ihnen nicht gleich folgt, dann spürt man unter den Füssen bald die alte Straßenbepflasterung aus buckligen Steinen und Sand. Hier erst kommt man in die alten Alleen, hier erst bekommt man ein Friedhofsgefühl, aber eines, das von viel Hochachtung durchdrungen ist.
Kerepesi ist kein eng bepflanzter Gottesacker mehr, sondern eine Parklandschaft mit skulpturalen Zeugnissen aus dem 19. Jahrhundert. Ursprünglich wohl voll belegt, sind die Grabmonumente heute fast nur noch Akzente inmitten einer mehr als 150jährigen Parkanlage. 1847 wurde der Friedhof eröffnet, ein Jahr nachdem die erste ungarische Eisenbahnlinie zwischen Pest und Vác (in nördlicher Richtung also) das neue Mobilitätszeitalter andampfte.
Der dem Friedhof heute noch benachbarte Bahnhof wurde erst 1884 fertig. Anzunehmen ist, dass damals sowohl Bahnhof als auch Friedhof noch außerhalb der eigentlichen Stadt lagen.
Wie der Friedhof seine heutige Struktur bekam, konnte ich bisher nicht heraus finden; etwa ob aufgelassene Gräber ihre Grabsteine und -monumente verloren oder ob auch Kriegseinwirkungen (oder sogar politische) dazu führten, dass die Gräber nicht mehr den Haupteindruck hinterlassen.
Kerepesi temetö war angelegt als ein Erinnerungsort für namhafte Leute – Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Industrielle, kurz für diejenigen, die damals die Zeit symbolisierten. Und so sind auch die Gräber gestaltet – mit allem Pomp und aller Pathetik des unter den Kaisern und Königen aufblühenden Industriezeitalters.
Heute treten sie nicht mehr geballt in Erscheinung, heute sind sie so etwas wie eine zarte Erinnerung, ein Hauch Nostalgie.
Ich habe einen stillen Spaziergang über den Friedhof gemacht, wie wenig andere Besucher auch, und habe mich gefragt, warum zur Darstellung von Trauer überwiegend junge Frauen, zudem noch leicht bekleidet und in oft unnachahmlich guter Körpermodellierung bevorzugt wurden. War es die Schönheit, die über die Trauer siegen sollte? Aber wen sollten die jugendlichen Schönheiten trösten? Wahrscheinlich sollten sie die Besucher der Gräber gleich wieder ans pralle Leben erinnern und damit den Weg hinaus aus dem Friedhof weisen.
Auch das beginnende Technikzeitalter war ja noch von magischem Denken geprägt und da man gerne in der Bildung der Alten schwelgte, liegt der Hinweis auf römische Bestattungsriten recht nahe. Und doch: für uns heute werfen die erotisch Trauernden Fragen auf, denen wir uns ruhig stellen dürfen.
Was mir beim Lesen der Namen auffiel: häufig hatten Ehepartner den gleichen Vornamen – Carol und Carolyn, auch bei im Deutschen ungewöhnlichen Kombinationen. War das ein gutes Omen für eine Ehe? Oder glichen die Partner ihre Vornamen einander an, als Zeichen inniger Verbundenheit?